Mittwoch, 8. August 2012

Darmausgang


Vom Wochenende:
Auf der Langenscheidtbrücke geht der Hans in der Sonne Richtung Schöneberger Insel. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs nach Kreuzberg zu Rena Lux und habe es eilig. Doch als ich Hans bemerke, mache ich kehrt, um ihn zu begrüßen. Bist du gesund? frage ich. – Im Moment ja, antwortet er und erzählt, dass er gerade eine Kontrolluntersuchung hinter sich hat. – Wie lange jetzt? – Zwei Jahre. – Na dann, Herzlichen Glückwunsch! Wenn du das geschafft hast, bist du so gut wie durch. – Zwei Jahre ist es her, dass ihm eine Metastase aus dem rechten Lungenflügel entfernt worden ist. Metastase eines Tumors im Darm. – Jetzt kann ich es dir ja sagen. Als sie die Metastase bei dir gefunden haben, war ich mir sicher, das war´s. – Hans macht das Gesicht, das er damals gemacht hat, als er mir von der Darmkrebsdiagnose erzählte, und dass sein Arzt ihm gesagt hat, seine Chancen stünden fünfzig zu fünfzig. Nur nicht so beklommen schaut er jetzt, aber genauso ernst. Was sind schon zwei Jahre? wird er denken. Nach fünf Jahren kann er sich als geheilt betrachten. Das weiß ich auch und dennoch sind die ersten zwei Jahre die entscheidenden, hat mir mein Hautkrebsprofessor gesagt, als ich um mein Leben gezittert habe, und was er gesagt hat, war das einzige, worauf ich was gegeben habe. Vergiss, was dir deine Freunde und Bekannten sagen. Alles nur dahin geredet, während sie sich im Stillen darüber freuen, dass es dich und nicht sie getroffen hat. Mein Gerede jetzt auch nicht viel besser. Warum halte ich nicht die Klappe? Warum höre ich Hans nicht zu? Er hat eine Geschichte zu erzählen. Aber die interessiert mich nicht. Ich erzähle ihm eine von mir.

Zweiter Teil des Gesprächs mit Hans und Schreibübung: Schon seit Tagen will ich etwas loswerden, nur wem soll ich es erzählen? Und vor allem, wie? Ohne den Mann unter der Dusche vorzuführen und trotzdem nicht über mein Befremden und meine Empörung hinwegzugehen - Empörung und Befremden, nicht Abscheu oder Ekel, denn gestunken hat es nicht, was der Mann gemacht hat. Ein grauhaariger Mann, jünger als wir beide, kultivierte Erscheinung, kein Hängebauch, kein Säufergesicht, Frisur wie gemeißelt, die Haare noch beim Duschen akkurat liegend. Die Männerdusche des Freibads in der Forckenbeckstraße ein überdachter Raum, durch den der Wind pfeift, wenn er von Norden kommt. Ständiges Tür-auf-Tür-zu um diese Zeit. Kurz nach acht Uhr. Frühschwimmen. Während ich mich abtrockne, sehe ich, dass auf der Türschwelle eine Badehose liegt; wenn die Tür schließt, wird sie eingeklemmt, und wenn die Tür geöffnet wird, steigen die Leute über die Hose drüber, aber niemand hebt sie auf. Also mache ich das. Weit geschnittene schwarze Shorts. Ich hänge sie an einen Haken neben das Badetuch, das dem grauhaarigen Mann gehören muss, denn jetzt sind nur noch wir beide in dem Duschraum. Tue Gutes und rede darüber: Ich sage zu dem grauhaarigen Mann unter der Dusche, dass ich es nicht mit ansehen konnte, wie die Leute einer nach dem anderen über die Badehose gestiegen sind. Da blickt der grauhaarige Mann zu der am Haken hängenden Badehose und sagt, das ist meine. Er bedankt sich höflich fürs Aufheben und ich wundere mich, dass der grauhaarige Mann zwei Badehosen trägt beim Schwimmen. Die andere Badehose, eng anliegende Shorts, die hat er noch an. Auch so einer, der beim Duschen die Badehose anbehält, denke ich und sehe, wie er sich vorne mit einer Hand in die Badehose fasst. Um sein Genital zu waschen? Nein, so tief greift er nicht hinein in die Badehose, und eine rasche Bewegung macht er, wie um etwas zu richten. Ich wende den Blick ab und da bemerke ich eine hellbraune Masse auf dem Boden, wo der grauhaarige Mann steht. Was Kosmetisches, das er angewendet hat? Eine XXXL-Mandelkleie? Frage ich mich wirklich in dem Moment, bevor mir klar wird: das ist Darminhalt, weicher, ungeformter Darminhalt und den schiebt der grauhaarige Mann jetzt mit der Sohle seiner Badelatsche in Richtung Abfluss. Ohne Aufregung, ohne Hast - dass ich sein Missgeschick bemerkt habe, ist nun auch nicht mehr zu ändern. Doch da schaue ich auch schon weg und tue so, als wäre nichts gewesen. Aber als ich dann den Duschraum verlasse und der Mann sich noch einmal bedankt, dass ich seine Badehose vom Boden aufgehoben habe, nicke ich nur stumm und sein Lächeln erwidere ich nicht, obwohl mir schon klar ist: Künstlicher Darmausgang. Und soll man dem armen Mann deswegen das Freibad verbieten?  

Hans hat mir zugehört, ohne mich zu unterbrechen, obwohl er längst verstanden hatte, was da passiert war. In wenigen Sätzen erklärt er mir nun den Aufbau eines künstlichen Darmausgangs: wie dicht der auf eine Metallplatte gestülpte Beutel schließt und wie hygienisch das alles ist. Dennoch ist es ihm anfangs als das Allerschlimmste auf der Welt vorgekommen, dass er damit nun leben musste. Doch nach einem halben Jahr hat es ihm nichts mehr ausgemacht, sagt er und so sei es auch zu erklären, wie selbstverständlich der grauhaarige Mann mit seinem Missgeschick umgegangen ist. Offenbar hatte sich beim Duschen der Beutel an seinem künstlichen Darmausgang gelöst und – Hans: Wenn in so einem Moment der Darm gerade schiebt, dann kannst du nichts dagegen machen. - Nur noch deinen Darminhalt in Richtung Abfluss weiterschieben. - Aber sonst, wiederholt Hans, ist so ein künstlicher Darmausgang eine überraschend saubere Sache und im Grunde genommen sollte jeder einen haben. Der Kalauer im Nachsatz von mir, nicht von Hans. Der hat schon lange wieder seinen natürlichen Darmausgang. Der grauhaarige Mann mit den zwei Badehosen hoffentlich bald auch. Wenn der Darm gerade schiebt, dann kannst du nichts dagegen machen. Im Freibad in der Forckenbeckstraße bin ich seither nicht mehr gewesen. Ich gehe da allerdings sowieso nicht gerne hin.