Donnerstag, 16. August 2012

Anmaßung


So sieht er von hinten aus, der Mann, der hinter dem Innsbrucker Platz von Straßenseite zu Straßenseite wechselt, um wild geklebte Plakate abzureißen.


Er bezeichnet sich als eine Ein-Mann-Bürgerinitiative gegen optische Umweltverschmutzung. In Kreuzberg gebe es eine richtig große Bürgerinitiative, die für das gleiche Ziel eintritt, sagt er. Ich frage ihn, ob er Lehrer ist. - Nein, wie kommen Sie darauf? - Weil Sie so aussehen und weil gerade eine Tageszeit ist, zu der Sie Schulschluss haben könnten. - Nachhaken: Aber Sie sind schon berufstätig. - Ja. - Im öffentlichen Dienst? - Ich mache keine Angaben zur Person. - Also ist er im öffentlichen Dienst tätig. Fotografieren (von vorn) darf ich ihn auch nicht. Erstens: Recht am eigenen Bild. Zweitens: Um das machen zu können, was er macht, muss er anonym bleiben, sagt er. - Anonym! Ich sage euch, das ist die kommende soziale Bewegung. Zusammenrottungen von immer mehr Arschlöchern, die sich im Schutz der Anonymität die Legitimation zu einer Anmaßung erteilen, die sie für eine gerechte Sache halten, weil sie in ihrer Selbstisolation noch nie mit jemand geredet haben, der alles ganz anders sieht.


Eben noch wollte er diese zwei Plakate abreißen. Da hat er extra einen Umweg dafür gemacht, um die abzureißen. Dann habe ich ihn angesprochen, nachdem ich schon eine Weile hinter ihm her gegangen war. Ich habe ihm Fragen gestellt und ihm darauf klar gemacht, dass ich eine Antipathie gegen Leute habe, die sich einen Hilfssheriff-Stern an die Brust heften. Mehrmals habe ich das Wort Anmaßung gebraucht. Ich habe auf die Plakate gezeigt und gesagt: Das sind Leute, die es sich nicht leisten können, Plakatierfläche an einer Litfaßsäule oder einer Plakatwand zu kaufen. Warum sollen sie dann nicht hier auf ihre Veranstaltung aufmerksam machen dürfen, damit möglichst viel Publikum zu ihren Darbietungen kommt, von denen sie wahrscheinlich leben? Es sah erst nicht so aus, als ob ihn das beeindrucken würde. Ich habe das Foto von den zwei Plakaten gemacht und habe dann gesagt: So und jetzt los! Reißen Sie die Plakate ab, damit ich noch ein Danach-Foto machen kann. Aber da wollte er nicht mehr. - Warum denn nicht? - Sie haben doch gesagt, dass die Leute von dem leben, wofür sie da werben. - Hat er wörtlich gesagt. Und dann sind wir noch ein Stück zusammen gegangen und er hat gemurmelt: Ich weiß schon, wie viel Plakatierfläche kostet. Was aber nicht etwa bedeutete, dass er nun bekehrt war. Es war klar, dass er weiter Plakate abreißen wird, nicht täglich, sondern wann immer es ihn überkommt - wie ein cholerischer Anfall, so hatte es für mich ausgesehen, als ich ihn beobachtet habe. Er ist dann zum Friedenauer Markt gegangen und ich weiter nach Steglitz. Als ich mich verabschiedet habe von ihm, wusste ich nicht,  was ich sagen sollte. Alles Gute kam nicht in Frage. Also habe ich ihm einen schönen Tag gewünscht und mich danach über meine Höflichkeit geärgert.