Sonntag, 27. Februar 2011

Lobby

Die Frau kauft Getränke. Mehr als Guten Tag muss sie dazu nicht sagen. Sie muss nur Sinan ihre zwei Stofftaschen reichen. Dann weiß Sinan schon. So wie er bei mir weiß: Zigaretten. American Spirit, rote Packung. Nachdem er der Frau ihre beiden Taschen gefüllt zurückgegeben hat, und sie das mit dem Geld machen – Preis muss er nicht sagen; sie weiß schon -, da hat die Frau noch eine Frage: Ob er einen Computer hat? – Ja. – Und ein Schreibprogramm? – Ja. – Ob er für sie einen Text schreiben kann? Sie hat nämlich ein Flugblatt verfasst gegen die Abzockung, Diskriminierung und – was war das? – Verfolgung? – nein, was anderes; so weit ist es noch nicht gekommen: verfolgt werden die Raucher noch nicht. Aber alles andere schon. Deshalb das Flugblatt. Das muss geschrieben werden und dann kopiert und dann braucht sie noch ein zweites Blatt für die Unterschriften, die sie sammeln will. – Sinan sagt, dass er nicht der Mann ist, um ihr das zu schreiben, aber erklärt freundlich: Da können wir schon was machen. Während ich zwei Schritte entfernt am Rande der Szene stehe, mit dem aufgeschlagenen neuen SPIEGEL in der Hand, um einen Blick zu werfen auf die Titelgeschichte und um das Editorial zu lesen – die Hausmitteilung. Von Peter weiß ich schon, was in der steht, aber ich will sie selbst noch mal lesen, bevor ich mich an das Schreiben des Posts von heute mache. Denn, wenn das so ist, wie Peter mir erzählt hat, wenn es auch nur ein plausibler Verdacht ist, was der SPIEGEL behauptet in seiner neuen Ausgabe - es muss gar nicht stimmen -,  dann muss ich Abbitte leisten wegen dem, was ich gestern geschrieben habe über den Blödsinn, den ein Popstar verkündet hat, Judith Holofernes, mit ihrer Aussage, die Bild-Zeitung sei ein gefährliches Instrument – nicht nur ein stark vergrößerndes Fernrohr in den Abgrund, sondern ein bösartiges Wesen, das Deutschland nicht beschreibt, sondern macht. Mit einer Agenda. – Das der Blödsinn, wie ich meinte: Dass die bei der Bild-Zeitung  eine Agenda haben. Wo doch nicht mal die dafür gewählten und bezahlten Politiker eine Agenda haben für das Land, soll die Bild-Zeitung eine haben? -  Aber wenn das stimmt. was Peter mir erzählt hat über die SPIEGEL-Titelgeschichte, dann haben die das herausgefunden, dass die Bild-Zeitung eine Agenda hat für das Land, und im neuen Heft kann jeder es lesen. Zum Preis von 4 Euro, die ich nicht ausgeben will, nachdem ich schon 4 Euro 90 für die Zigaretten bezahlt habe, und deshalb habe ich Sinan gefragt, ob ich mal unentgeltlich in das Heft hineinschauen darf. Auf dem Umschlag groß: Bild-Logo und darunter: Die Brandstifter. – Brandstifter? Wie meinen sie das, habe ich mich gestern Abend schon gefragt, als ich die Ankündigung gesehen habe. Jetzt will ich die Hausmitteilung lesen, gespannt darauf, was sie in der Hand haben. Am Anfang was über die Sympathie-Kampagne der Bild für Guttenberg, was über die Aufmerksamkeits-Kampagne für Sarrazin – und zwei Schritte entfernt von mir die Frau mit den Getränken und dem Flugblatt, mit dem sie für die Rechte der Raucher, also auch von mir, eintreten will. Wenn sie das hat, das Flugblatt, dann muss sie das natürlich auch verteilen, sagt sie ganz ruhig und sachlich mit ihrer nicht unangenehmen, aber durchdringenden Stimme. Doch nicht nur wegen der Stimme kann ich mich nicht auf den Text konzentrieren, auf den ich so gespannt bin. Ich kann es einfach nicht fassen, was die Frau alles sagt - was ich aufschnappe von dem, was sie alles sagt, denn eigentlich lese ich gerade die Hausmitteilung. Hat die Frau eben tatsächlich gesagt: Die Alkoholiker haben ja auch eine Lobby, nur die Raucher haben keine? – Auf jeden Fall ist es so, dass damals in den USA, als auf einmal alles verboten wurde, die Raucher sich organisiert und sich - gemeinsam stark - gegen die Diskriminierung zur Wehr gesetzt haben, sagt die Frau. – Was die Raucher dabei erreicht haben, lässt sie offen. Ihr geht es jetzt erst mal nur um den Widerstand mit dem Flugblatt, das zu schreiben, zu kopieren, zu verteilen. Wenn ich richtig verstanden habe, am Nollendorfplatz. Frau Anfang 60. Atem leicht, aber unüberhörbar emphysematisch. Spätfolge des Rauchens. Wird nichts dagegen getan – aufhören mit dem Rauchen – ist der Lungenkrebs nicht mehr weit. Gegen den helfen keine Flugblätter. Aber was solls: An irgendetwas muss man schließlich sterben. – Zurück zur Hausmitteilung des SPIEGEL. Wegen der Ablenkung durch die engagierte Raucherin dreimal zurück zur Kernaussage: dass nach Überprüfung der ethischen Standards und journalistischen Qualität der Bild-Zeitung der SPIEGEL-Reporter Fichtner zu dem Urteil gekommen ist, dass die Bild-Zeitung die Rolle einer rechtspopulistischen Partei spielt, die es in Deutschland noch nicht gibt. - Überprüfung, Urteil. Rolle. So wie Peter es mir erzählt hat, hörte es sich nach rechtspopulistischer Verschwörung an. Geheimpartei. Nichts davon. Auch nichts von Recherchen  und Fakten. Überprüfung, Urteil. - Danach noch, dass sie die Geschichte schon seit längerem parat haben, sie haben sie jedoch zurückgehalten, solange die beiden Bild-Journalisten im Iran inhaftiert waren. Schließlich: der Fall Guttenberg. Ach ja, der Fall Guttenberg. - Ich blättere zur Titelgeschichte. Ganz am Ende des Hefts, Rubrik Medien. Der Artikel aufgemacht mit einem Foto von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann vor einem Pop-artigen Gemälde mit dem Bild-Logo; das haben sie für das Titelbild verwendet. Auf einer der Folgeseiten Diekmann mit Stephanie zu Guttenberg, wie die beiden sich begrüßen mit  Wangenküsschen. Aha!

Inzwischen habe ich eine Kopie des Stücks, wie die Journalisten das nennen. Es gibt keine Agenda für das Land bei der Bild-Zeitung. Sie haben nur die Agenda, die der SPIEGEL auch hat: Auflage, Auflage, Auflage.  Bild-Zeitung: 2,9 Mio.; SPIEGEL 1,1 Mio.