Samstag, 19. Februar 2011

Bürgerlich

Blick auf die Turmuhr der Apostel-Paulus-Kirche: 15.15 Uhr. - Entschuldigen Sie bitte! – Ja? – Eine schwarz gekleidete bürgerliche Frau Anfang 40 fragt mich: Wissen Sie, wer der Besitzer dieses Hauses ist und wie man den erreicht? - Dabei blickt sie durch die geöffnete Tür des galerieartigen Ladens, vor dem wir stehen, und zeigt mir damit, warum sie mich das fragt. In dem kleinen Ladenraum, neben einem an die Wand gerückten Tisch. kniet in sich zusammengesunken die mir vom Vorbeigehen am Laden bekannte Besitzerin: eine bürgerliche Frau Mitte oder Ende 60. Strenges Damengesicht. Dezent gefärbte Haare. Meist mit Brille auf der Nase. Auch jetzt wieder. – Dass ihr die Brille beim Hinfallen nicht von der Nase gerutscht ist, obwohl sie aufs Gesicht gefallen zu sein scheint. Wahrscheinlich auf der Kante des Tisches, eines Couchtisches, aufgeschlagen. Ihre Mund- und Nasenpartie ist gerötet, aufgeschürft. Aber auf die Nase ist sie nicht gefallen. Kein fließendes Blut. – Soll ich Hilfe rufen? frage ich die in ihrem Lammfellmantel am Boden kauernde Dame und denke im gleichen Moment, dass der Akku meines Handys fast leer ist (wie ich festgestellt habe, als ich zuvor eine SMS bekommen habe von Julia, die sich mit mir verabreden möchte und mir vorher ein sexy Foto von sich schicken will, wenn ich es abrufe, indem ich okay sende, und dann werden mir dafür vermutlich 5 Euro in Rechnung gestellt). Die sichtlich benommene Dame will nicht, dass ich den Rettungsdienst anrufe. Sie schüttelt den Kopf. Und als die schwarz gekleidete Frau sie fragt, ob sie wirklich keine Hilfe haben will, da schüttelt die Dame noch mal den Kopf und winkt mit einer fahrigen Bewegung ab. – Ratloser Blick der hilfsbereiten Frau neben mir. - Lassen wir sie in Ruhe, sage ich. Wir gehen von der offenen Türe weg und bleiben nach ein paar Schritten stehen. - Wissen Sie denn nicht, wem das Haus gehört? fragt die Frau. – Ich könnte sagen: Verdammt, ich bin ein Passant. Woher soll ich wissen, wer der Besitzer dieses Hauses ist? Möglicherweise eine Erbengemeinschaft in Schwaben oder irgendeine Immobilien GmbH - bH für beschränkte Haftung. Aber selbst wenn es eine Gesellschaft mit voller Haftung wäre, erwarten Sie denn allen Ernstes, dass der Geschäftsführer sich in Zehlendorf in sein Auto setzt und hierher gebraust kommt, um sich um die gestürzte Dame zu kümmern?  - Aber das sage ich nicht, das denke ich nicht mal in diesem Moment. Ich versuche die Frau zu beruhigen: Die Dame ist, wie es aussieht, betrunken und will für sich sein, erkläre ich. – Darauf sagt die Frau: Als ich vorbeigegangen bin, habe ich es plötzlich knallen gehört und da bin ich natürlich stehen geblieben und wollte ihr helfen. – Klar, sage ich, aber wie wir gesehen haben, hat sie immer noch genug Energie gehabt, um sich dagegen zu wehren, dass wir ihr helfen. – Die Frau nickt. Wir verabschieden uns. Angenehme Person. Nette Frau. – Während ich weitergehe, denke ich an die Dame im Laden. Dass die trinkt! - Warum nicht? – Vielleicht war sie auf dem Winterfeldmarkt und hinterher hat sie mit Freunden zusammengesessen in einem Café oder sie hat in einem Weinladen zu viele Probierschlucke genommen oder sie ist bei einer Vernissage gewesen und hat da zwei Gläser zu viel abgekriegt. Danach ist sie noch mal kurz in ihren Laden gegangen, um etwas zu holen – deshalb stand auch die Tür offen – und dann ist sie ausgerutscht und hingefallen, beim Rausgehen – deshalb kauerte sie mit dem Gesicht zur Tür auf dem Boden. Dann ist auch schon die schwarz gekleidete Frau vor der offenen Tür gestanden und im nächsten Moment ich. Und da waren die zwei richtigen Helfer zusammen. Statt zu ihr zu gehen und zu gucken, wie schwer sie sich verletzt hat, und ihr aufzuhelfen, haben wir sie mit unserer Fragerei belästigt. So dass sie erleichtert war, als wir wieder weg waren, sie sich erst einmal wieder fassen konnte und ihr dann niemand dabei zugesehen hat, wie sie sich mühsam aufrappelte, schwankend, Halt suchend an der Wand. - Wenn es so war. Wenn es keinen anderen Grund für ihren Sturz gab. Und wenn sie alleine wieder hochgekommen ist. Wenn sie einfach nur nicht belästigt werden wollte in ihrer Notlage. Dann waren wir zwei tatsächlich die richtigen Helfer. Ich, der sich mal wieder wie auf Schienen bewegt hat. Und die nette bürgerliche Frau mit ihrer fixen Idee, den Hausbesitzer zu alarmieren. - Was hat sie sich nur davon versprochen? - Dass der Hausbesitzer die Angehörigen der Dame benachrichtigt? Damit die kommen und ihr aufhelfen? Damit wir ihr nicht zu nahe treten müssen mit unserer Hilfsbereitschaft?