Freitag, 5. Oktober 2012

Keine Papiere


Wer nicht schreiben kann, muss lesen. Der VÖBB hat überraschend schnell geliefert, nachdem ich im September bei der Bestellung noch auf Vormerkeposition 3 war. Da die Ausleihfrist vier Wochen beträgt, muss jemand abgesprungen sein. Mich hat es gefreut.


10 000 Exemplare des Buches wurden seit Erscheinen verkauft, drei Auflagen gedruckt. Das Exemplar, das ich lese, ist ein Exemplar der ersten Auflage. Auf Seite 66 entdecke ich einen Satzfehler:

Thewe war Sprißler dankbar, er bedankte sich für Sprißlers Rat. "Ich habe nur überhaupt keine derartigen Papiere", sagte Thewe. "Ach", sagte Sprißler erstaunt. Eben dies hatte er von Sprißler  wissen wollen, und jetzt sagte er zu Thewe: "Keine Papiere, überhaupt nichts Derartiges?" "Nein, gar nichts, sagte Thewe.

Ganz klar: Es muss von Thewe wissen wollen heißen. Sprißler wollte wissen, ob der am Morgen vom Firmenchef entlassene Thewe belastendes Material gesammelt und damit eventuell etwas gegen das Unternehmen in der Hand hatte. Aber Thewe war nicht so vorausschauend gewesen. 

Dass so ein offenkundiger Satzfehler den Korrekturlesern bei Suhrkamp entgangen ist? Antwort: Gerade so ein Satzfehler entgeht den Korrekturlesern, weil sie auf Richtigkeit hin lesen und nicht auf Sinn. Andererseits ist es doch auch egal. Ich bin nicht darauf aus, Fehler zu finden. Mich beschäftigt eher, dass sich Rainald Goetz all diese Namen ausgedacht hat: Sprißler, Thewe, Blaschke, Henze, Leffers, Meyerhill, Ahlers, Wenningrode, Salger, Priebke, Assperg, Holtrop ... . Gut ausgedacht, so dass sie nicht ausgedacht erscheinen, sondern lebensecht. Aber warum soll man nicht merken, dass die Namen ausgedacht sind? (*) Es ist doch gar nicht echtes Leben, das erzählt wird, sondern Fiktion. Echtes Leben rekonstruiert und nacherzählt. Übrigens sehr konventionell nacherzählt. Wie gut Rainald Goetz konventionell erzählen kann. Nicht anders zu erwarten bei seiner Meisterschaft und trotzdem: dass er das wollte, was weiß ich wie lange mit diesem im Druck 343 Seiten langen Text konventioneller Romanerzählung sein Leben zu verbringen. Und recherchieren musste er das alles auch noch. Geschäftswelt der Nullerjahre. Szenerien in Thüringen. Und wie Leute denken und reden, die Sprißler, Thewe, Blaschke, Henze, Leffers, Meyerhill, Ahlers, Wenningrode, Salger, Priebke, Assperg, Holtrop heißen:
Ich habe nur überhaupt keine derartigen Papiere.
Ach. Keine Papiere, überhaupt nichts Derartiges?
Nein, gar nichts.

(*) Thomas Mann, ein namhafter deutscher Romancier der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat sich einen Spaß gemacht aus dem Erfinden von Namen. Höllenrauch, Aschenbach, Leverkühn und - best of: Serenus Zeitblom für den kreuzbiederen Studienrat, den er als Ich-Erzähler in Dr. Faustus auftreten lässt. Und wenn er sich keinen Spaß machen wollte mit einer Figur, dann eben Kröger oder Castorp. Gleich, wie man zu Thomas Mann steht, kann es ein Zurück hinter diese Position geben?

Rainald Goetz
Johann Holtrop
Abriss der Gesellschaft
Roman
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Preis: 19,95 Euro