Mittwoch, 10. Oktober 2012

Bluten


Drei Kerle. Alle drei Rentner. Einer ist ein Zweimetermann und streifenlos braungebrannt von der Sonnenbank. Der andere war Schweißer beim Bau von Kernkraftwerken. Heißt, dass er auf Montage gearbeitet hat, denn Kernkraftwerke können wir Ihnen hier in Berlin nicht auch noch bieten. Mit seiner Frau also nur zusammengewesen an den Wochenenden und im Urlaub. Die lange Vorfreude auf den Ruhestand, und als es endlich so weit war, da war die Frau tot. Rührender Mann, er redet am meisten. Zu Hause den ganzen Tag alleine. Wenn er die zwei anderen trifft, ist er wie losgelassen. Erst schwimmen sie zu dritt nebeneinander wie drei alte Weiber auf ihrem Weg zum Kaffeeklatsch und wie die Weiber die drei Kerle ununterbrochen am Quatschen. Anschließend Solebecken; Verweildauer dort mehr als doppelt so lang wie im Schwimmbecken. Zum Schluss Dusche, der ganze Duschraum dann zugedröhnt von den drei Kerlen und ihrem breiten Berlinern. Der Mann, der die Kernkraftwerke zusammengeschweißt hat, trägt eine zu große blau-weiße Badekappe beim Schwimmen, um sein volles lockiges Haar zu schonen. Jetzt liegt die Badekappe im Ablagefach neben einem roten Handtuch. Was für ein leuchtendes Rot das Handtuch hat! Der Mann greift danach, um sich abzutrocknen. Während ich mich auch abtrockne, sehe ich am Boden neben der Stelle, wo der Mann steht, zwei rote Flecken. Shampoo? Duschgel? Blut? Ich deute darauf und sage zu dem Mann: Ihr Handtuch blutet. - Sofort geht es los: Ich blute? Wieso soll ich bluten? Ich blute doch nicht. Die zwei anderen schon auf der Lauer, bereit sich einzumischen, sobald ich mich erklärt habe. Ich erkläre mich aber nicht. Ich beharre darauf: Ich habe nicht gesagt, dass Sie bluten. Ich habe gesagt, Ihr Handtuch blutet. Stille. Endlich Stille. Bis ich den Raum verlasse. Aber dann .... .

Surrealistische Intervention. Wie froh war ich, dass ich die Gelegenheit dazu bekommen habe. Denn ich habe die Drei kaum ertragen vorher. Außerdem ging es gedanklich schon seit dem Aufwachen um die Frage: Wie kann ich Leuten, die ich nicht ertrage, anders begegnen als mit Verachtung? - Noch keine acht Uhr, als ich  die Dusche verließ, um mich anzuziehen, und schon hatte ich eine erste Antwort gefunden: indem ich sie surreal entgrenze. So habe ich es hinterher großspurig genannt, was ich gemacht habe mit dem Schweißer. Blöd, dass es dann geregnet hat, sonst wäre ich gleich nach dem Frühstück rausgegangen, um das Verfahren an anderen Zielpersonen auszuprobieren und mir dabei klarzumachen, wie das genau gemeint ist: entgrenzen. Das jetzt nicht zu ernst zu nehmen. Während der Text oben, wenn es ernst werden sollte und die drei Kerle mich zur Rede stellen in der Dusche nächste Woche, natürlich nichts als Fiktion ist, fiktiv in jeder Figur, alles Erzählte hier auch: Werk der Literatur, werde ich sagen mit den Worten von Rainald Goetz (*), wenn die Drei vor mir stehen werden und bedrohlich ihre nassen Handtücher schwingen vor meiner Nase und der kalte Fliesenboden teilnahmslos auf mein Blut wartet. Literatur, werde ich wiederholen, ob sie euch gefällt oder nicht, um dann hinzuzufügen, wieder mit Worten von Rainald Goetz: natürlich basierend auf der Realität des Lebens, auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen, aber - weiter werde ich nicht kommen. Dann ist nur noch das Klatschen der nassen Handtücher auf meiner Haut und meinen Knochen zu hören. Und es wird nicht eher aufhören, als bis der kalte Fliesenboden mein Blut bekommen hat. 

(*) Auf der Seite 4 von Rainald Goetz, Johann Holtrop steht unter dem Titel Schutzschrift: Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles Erzählte hier auch: Werk der Literatur. Trotz aller Kritik: Was wäre mit entgangen, wenn ich das Goetz-Buch nicht gelesen hätte!