Donnerstag, 8. November 2012

Plappermaul


Belletristik-Abteilung der Mittelpunktbibliothek Schöneberg. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Vierbändige Ausgabe, S. Fischer Verlag, 3. Auflage 2002.


Erster Band: Die Geschichten Jaakobs. Am Buchrücken und Buchschnitt des Exemplars in der Stadtbibliothek ist deutlich zu erkennen, dieses Buch wurde mehr als ein Mal durchgelesen und unter den Lesern war keiner der Bibliotheksidioten, die im Text Anstreichungen vornehmen. Vor ihnen ist normalerweise kein Text sicher, auch kein Roman und kein Gedichtband. Allerdings eignet sich der Joseph-Roman ganz besonders nicht für Anstreichungen. Denn wo den Stift ansetzen?

Zweiter Band: Der Junge Joseph. Schmaler Band. Das Exemplar der Bibliothek weist Gebrauchsspuren auf, hatte aber erkennbar nicht so viele Leser wie Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph endet mit dem Verkauf Josephs an arabische Kaufleute, die mit ihrer Karawane auf dem Weg nach Ägypten sind. Das Gute daran, wie Thomas Mann die Geschichte erzählt, ist, dass man nur zu gut versteht, warum die Brüder Joseph los haben wollen, und es als Leser auch akzeptiert, es sogar als befreiend empfunden hätte, wenn sie das hoffärtige, streberische Plappermaul kurzerhand erschlagen hätten.

Allein, Joseph überlebt, gelangt nach Ägypten mit den Arabern, die ihn gekauft haben, und ist nun wie ausgewechselt nach den drei Tagen und drei Nächten, die er in einem Brunnen gefangen war: voller Demut und Dienstbarkeit, so unterwürfig und bescheiden, dass es auch schon wieder übertrieben ist, aber ein Plappermaul ist er geblieben und als ein einziges Geplappere, Geschwätz, Gequassele, Schwadronieren erscheint nun auch die Erzählung selbst und das Ende ist fern. Denn auf den dritten Band: Joseph in Ägypten folgt ein vierter: Joseph der Ernährer. Die Bibliothek-Exemplare dieser beiden Bände sind nicht unberührt, aber es ist zweifelhaft, ob sie auch nur ein Mal durchgelesen wurden. Ich werde das nicht ändern. Nach 64 Seiten Joseph in Ägypten suche ich Ablenkung im Nachwort von Albert von Schirnding. Da steht, was Thomas Mann sich konzeptionell gedacht hat bei den täglich 20 bis 30 Zeilen, die er zum Thema Joseph verfasst hat, wenn es ein guter Tag war. Was Thomas Mann sich da denkt, ist das, was der Deutsch-Abiturient oder Literaturwissenschaftstudent als Sekundärliteratur kennt. Außerdem erfahren wir im Nachwort, was Thomas Mann alles gelesen hat, um sich geschichts- und religionswissenschaftlich abzusichern und um Stoff zu sammeln, mit dem er die im Original (1. Buch Mose, Kapitel 36 - 50) dicht und zügig erzählte Geschichte Josephs ausmalen, ich könnte auch sagen, aufblähen konnte. Das ist ihm nicht leicht gefallen. Ein ständiges Andante sei die sich über mehr als ein Jahrzehnt hinziehende Arbeit an den vier Romanen gewesen. Das war einerseits nicht schlimm, weil seinen Nobelpreis hatte er schon, Buddenbrooks, Tonio Kröger, Tod in Venedig, Der Zauberberg waren längst geschrieben. Aber es war schon eine dumme Sache, auf die er sich da eingelassen hatte, obwohl er das selbst nie zugegeben hätte. Was gerade der dritte Band: Joseph in Ägypten ihm abverlangt haben muss, das zeigt sich an der unermesslichen Erleichterung, die er empfand, als er endlich, endlich fertig war. Tagebuch vom 23. August 1936: Heute Vormittag schloss ich Joseph in Ägypten ab. Der Tag wird zum Festtag: ... Festliches Abendessen mit Champagner-Getränk und Torte ... Nachher festliche Vorlesung des Schlusses ... . Champagner-Getränk und Torte! Warum schreibt er Champagner-Getränk und nicht einfach Champagner? Weil es ein Champagner-Cocktail gewesen sein wird, der gereicht wurde als Aperitif vor dem Abendessen. Was wird noch festlich gewesen sein an diesem Abendessen? Die Auswahl der Speisen, das Kerzenlicht und dass der Hausherr Smoking trug? Und im Smoking hat er auch festlich vorgelesen anschließend? Wem? Seiner Frau und seinen sechs Kindern auf jeden Fall. Die Frau Jüdin, die Kinder nach jüdischem Gesetz auch alle jüdisch wegen der jüdischen Mutter. Der Lübecker in seinem Smoking der einzige Nichtjude in dieser großen jüdischen Familie. All das im Grunde viel interessanter als das Geplappere der Erzählung von Joseph, mit dem er sich identifiziert haben muss, anders geht es doch gar nicht. Der so sehr norddeutsche Mann identifiziert mit dem jungen jüdischen Mann in der Fremde Ägyptens. Und seine Kinder feixen hinter vorgehaltener Hand, während sie seinem festlichen Vorlesen folgen, was sie allerdings auch getan hätten, wenn sie keine Juden wären. Denn dass der Vater sich seinen Smoking angezogen hat an diesem Abend, das ist mal wieder ein starkes Stück. Mutter Katia lächelt milde. Und drei Jahre später erscheint Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Das ist letztlich auch ein fiktionales Werk. Aber Sigmund Freud weiß, wovon er redet.