Sonntag, 6. Februar 2011

Leserin

Inge hat sich in den letzten Wochen Sorgen um mich gemacht, wenn sie den Blog gelesen hat. Und Inge sagt das Gleiche, was die älteste Freundin neulich auch gesagt hat. Die älteste Freundin sagte: Du brauchst mal einen Tapetenwechsel. Inge sagt: Ich würde dich am liebsten ins Auto packen und mit dir wegfahren. Nach Usedom oder Travemünde, egal wohin, nur mal raus aus deiner Schöneberger Enge, damit du mal was anderes siehst, um darüber schreiben zu können. – Doch für mich ist es schon genug Tapetenwechsel, wenn ich mit der U 7 nach Charlottenburg fahre, bei Inge sitze, das wunderschöne Fell ihres kleinen Katers (halbes Jahr alt) streichle, ihren feinsten Assam trinke und erlebe, dass sich mal jemand anders Gedanken über mich macht; nicht immer nur ich. Keine Übertreibung: Ich bin den Tränen nahe, so berührt bin ich von der mütterlichen Entschiedenheit, mit der sie den Blog und mein Leben analysiert, wohl wissend, dass mehr Leben nicht ist bei mir, als im Blog steht. – Du verpasst dein Leben, sagt sie. – Das habe ich auch schon oft gedacht. Aber nicht wegen des Blogs, sondern wegen der Liebesgeschichte im Blog. Andererseits habe ich ihr auch viel zu verdanken, sage ich. -  Zweiflerischer Blick Inges: Hat er es immer noch nicht kapiert? – Du kennst die Frau doch gar nicht. Das kann sein, dass du die einen Satz sagen hörst, und dann ist alles vorbei. – Ich habe sie schon einen Satz sagen hören und der hat mir gefallen, sage ich. – Inge wechselt das Thema, kommt auf meine Geldnot zu sprechen. Das an anderer Stelle. – Dann findet sie noch, dass ich immer weniger über mich selbst schreibe. – Wie bitte?  - Du schreibst überhaupt nicht mehr über dich.  - Inge, ich suche nur ständig nach anderen Wegen, um über mich zu schreiben. Das am Donnerstag zum Beispiel, das über die beiden blonden Frauen, das war über mich. Da bin ich raus gegangen in der Absicht, was zu erleben, worin ich mich spiegeln kann. Dann hat mir das Mädchen mit dem Zitronengras die Putenbrust aufgehoben und die Bettlerin hat nichts von mir gewollt. Darüber habe ich geschrieben und so über mich geschrieben. - Und jetzt bin ich bei Inge, weil ich über sie schreiben will. Über sie als Leserin nicht nur meines Blogs, sondern als eifrige Leserin, Leseratte, die sie ist. Das weiß sie noch nicht, dass ich das vorhabe, und als ich es ihr sage, sagt sie gleich, dass sie dann aber nicht namentlich genannt werden will. -  Das ist schon mal schlecht. Und dass wir jetzt so lange bei ihr sitzen und über mich reden, das ist auch nicht gut. Denn inzwischen ist es halb vier und in einer halben Stunde schließt die englische Buchhandlung in der Goethestraße, die sie mir zeigen wollte. So wollte ich nämlich über sie als Leserin schreiben: dass ich mit ihr zusammen in den gebrauchten Büchern stöbere, die es dort gibt, und wir darüber reden. Und da ich morgens in der taz den Artikel über Nicole Krauss gelesen hatte, wollte ich mit ihr noch über Nicole Krauss sprechen und über ihren Mann Jonathan Safran Foer. Vielleicht den Besitzer des Ladens noch einbeziehen in das Gespräch, und sehen was daraus wird. - Wie immer natürlich nichts, wenn ich vorher schon so genau weiß, wie es werden soll. Dafür ist der Besitzer des Ladens viel interessanter, als ich es erwartet habe: Amerikaner aus New England. Mit dem schönen Namen David Solomon. Er: Zwei Könige in einem Namen. – Ich: Nun, da Sie es selbst sagen, der Name ist ja schon etwas übertrieben. – Er: Sein Vater (oder war es der Großvater?) kommt aus der Ukraine, hatte einen für eine amerikanische Zunge unaussprechlichen Namen, und da hat ein Beamter der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island dann den mühelos auszusprechenden Namen Solomon daraus gemacht. – Herr Solomon lebt seit den 80er Jahren in Berlin, hat erst auf dem Campus der Humboldt-Universität mit einem Büchertisch gestanden und daraus ist 1994 der Laden in der Goethestraße geworden. Was Herr Solomon nicht unbedingt als Glücksfall zu betrachten scheint. Denn während er über alles, was seinen Buchladen angeht, mit einem melancholischen Unterton spricht, lebt er sofort auf, wenn er die Sprachschule für Kinder erwähnt, die er außerdem noch betreibt und mit der er, nehme ich mal an, seinen Lebensunterhalt verdient. Zweimal erwähnt er die Sprachschule für Kinder; außerdem gibt er noch Einzelsprachunterricht für Erwachsene. Ich frage ihn nach Nicole Krauss. Von der verkauft er viel, sagt Herr Solomon und weist darauf hin, zweimal weist er darauf hin, dass Nicole Krauss am 26. Februar in Berlin  liest. Aber das Gespräch unter Lesern, das ich geplant habe: über Nicole Krauss, ihren Mann und die Frage, ob vielleicht nur schön, begabt und erfolgreich (aber literarisch nicht so wichtig?) - so ein Gespräch kommt nicht zustande. Auch deshalb nicht, weil die Leserin Inge im hinteren Raum des Ladens verschwunden ist und in der Second-Hand-Abteilung stöbert, wo sie drei Bücher findet, die sie kaufen wird. Titel, die mir nichts sagen. Was nichts zu bedeuten hat. Inge verfolgt ihre eigenen Spuren beim Lesen, gibt wenig aufs Feuilleton und gerade das macht sie als Leserin - und als Tippgeberin - so interessant. Doch darüber ein andermal. Vielleicht beim nächsten Besuch bei Herrn Solomon. Dieses Mal hatte ich nicht die Kraft, mehr aus der Situation zu machen. Das Gespräch vorher über mich hatte mich runtergezogen. Im Nachhinein hätte ich es lieber nicht geführt gehabt. Was nicht gegen Inge geht. Es war nur so, dass ich gerade wieder die Kurve gekriegt hatte und das Gespräch mich um Tage zurückgeworfen hat. Außerdem war ich zum Schluss völlig ausgehungert. Was auch nicht gegen Inge geht. Sie hätte mir bestimmt etwas zu essen angeboten, wenn ich danach gefragt hätte, aber ich wollte mit ihr unbedingt noch in den Buchladen. Gut, dass wir es geschafft haben und wenigstens kurz da waren. Herrn Solomon wird es hier bestimmt wieder mal geben und Inge sowieso.
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