Donnerstag, 17. Februar 2011

Kinderwagen

Schon wieder Akazienstraße. Wieder hin zur Ecke mit dem Feinkostladen Südwind und dem Café Sud. Hin zu, denn es ist eine bewegte Szene. Hinteransicht einer telefonierenden Frau, die einen Kinderwagen schiebt. Sie telefoniert anscheinend mit ihrem Mann in einer Handwerker-Angelegenheit; ich höre nicht richtig hin, weil ich noch nicht weiß, dass ich es gleich mit ihr zu tun haben werde. Die Frau fällt mir auf, weil sie zu ihren schwarzen Jeans einen taillierten braunen Kurzmantel trägt und die Decke, die Zudecke des Kinderwagens, auch braun ist. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass es sich um eine Art Spanndecke handelt, die in den Kinderwagen integriert oder eingeknöpft ist, eine Decke mit einer Öffnung an der Kopfseite, in die man das Kind hineinsteckt. Das nehme ich an. Ich sehe es nicht, die Öffnung nicht und auch das Kind nicht, wie es im Wagen unter der Spanndecke liegt, denn ich komme nicht an der Frau und dem Kinderwagen vorbei. Ich habe es links versucht, da war es zu eng. Ich hätte mich vorbei drängen müssen und dabei vielleicht den Kinderwagen bedrängt. Das wollte ich nicht. Also wechsle ich zur anderen Seite, um rechts an der Frau mit dem Kinderwagen vorbei zu gehen. Wieder zu eng. Ich müsste mich vorbeidrängen, würde dabei vielleicht den Kinderwagen bedrängen. Das will ich nicht.  Ich wechsle zurück auf die linke Seite, um links an der Frau vorbei zu gehen. Zu eng! Das gibt´s doch nicht! Bei der Breite eines Berliner Bürgersteigs. - Die Frau fährt Schlangenlinien! - Geschwind wechsle ich zurück auf die rechte Seite. Wieder! Zu eng! Kein Zweifel mehr. Sie fährt Schlangenlinien. Rasch zurück auf die linke Seite. Jetzt endlich: die Lücke! Ich kann überholen. Ohne die Frau anzusehen, sage ich im Vorübergehen mürrisch: Können Sie nicht geradeaus fahren?
Zu meiner Überraschung reagiert sie darauf: Schieben Sie mal einen Zwillingskinderwagen und telefonieren dabei, sagt sie.
Ich blicke zur Seite auf den Kinderwagen. Zwillinge. Hintereinander in dem Wagen liegend. Kein extra breiter, ein extra langer Kinderwagen. Ich sage: Ist schon gut. War nicht so grimmig gemeint.
Sie vorwurfsvoll: Das hat sich aber sehr grimmig angehört.
Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist Mitte Dreißig, hat lange glatte braune Haare und ein scharf geschnittenes Gesicht. Nicht hübsch, nicht hässlich. Handy am Ohr. Ich sage: Es war nicht grimmig gemeint. Es war nur vorübergehend unmöglich, an Ihnen vorbei zu kommen.
Sie: Kann ich jetzt bitte weiter telefonieren?
Ich: Ich habe das Gespräch nicht angefangen. – Doch, habe ich, aber … . - Egal.
Sie, wieder ins Telefon: Ich werde hier gerade von der Seite ange - .
Den Rest höre ich nicht mehr, da ich schnell weitergehe. Verärgert. Ich bin schon den ganzen Tag angefressen und jetzt auch noch sie mit ihrer Überheblichkeit: Schieben Sie mal einen Zwillingskinderwagen und telefonieren dabei! - Wer zwingt sie dazu? - Meine Lippen formen einen Konsonanten und einen Vokal. Aber obwohl es niemand hören könnte und ich es nur leise vor mich hin gezischt hätte, unterdrücke ich das Wort. Weil ich es mir prinzipiell verbiete, dieses Wort zu gebrauchen gegenüber einer Frau, da es vulgär und sexistisch ist und außerdem tautologisch. Wenn, dann würde ich das Wort zu einem Mann sagen, aber auch erst, nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass ich ihm im Ernstfall körperlich gewachsen bin. – Ich beruhige mich und denke: Was hätte sich aus dem Dialog eben alles machen lassen, wenn die Beteiligten mehr Humor gehabt hätten. - Ein Stück weiter denke ich: Was hätte mein Vorbild Buster Keaton aus dem Slapstick am Anfang der Szene alles gemacht. – Als ich die  Haustür aufschließe, denke ich: So schlecht ist die Szene doch gar nicht gewesen. Und am besten darin war der Satz: Schieben Sie mal einen Zwillingskinderwagen und telefonieren dabei!