Samstag, 8. Oktober 2011

Vossmann 1


Calippo   Collage auf Holz   100x100x6cm   1997

Es ist wirklich kein Problem, dass ich zu spät komme, sagt er. In der Zeit, in der er auf mich wartete, hat er den Hof gefegt. Muss er jetzt im Herbst täglich machen. Er ist nämlich Hausmeister des Anwesens, in dem er wohnt und wo er sein Atelier hat und sein Magazin mit seiner Sammlung. Der Hausmeisterjob bringt ihm mehr als die halbe Miete. Als ich die Kurzbiografie auf seiner Website las, hatte ich aus mehreren Gründen den Eindruck, Burchard Vossmann sei ein sorglos lebender Erbe. Ein Grund: seine vielen längeren Auslandsaufenthalte. Doch so lange waren die gar nicht, wie er sagt, längstens vier Monate und leisten konnte er sie sich nur, weil er als Grafiker bei der Zweiten Hand gearbeitet hat bis vor drei Jahren. Da übernahm Holtzbrinck das Anzeigenblatt und hat dann gleich den Betrieb verschlankt, also Leute entlassen. Er bekam eine Abfindung und hatte vorher, gerade noch rechtzeitig vor seiner Entlassung die Frau kennengelernt, die wie er schon seit den frühen 80er Jahren bei der zweiten Hand arbeitete, sie war ihm nur zuvor nie aufgefallen. Dann hat er eines Tages gedacht, die nächste Frau, die soll bleiben, und das war dann sie. Er aus Oldenburg, sie aus Bremen, beide in den gleichen Discos gewesen, auf den gleichen Konzerten, bei den gleichen Demos (Brokdorf, Gorleben, Kalkar), nur dass sie sich dort nie begegnet sind. Nun sind sie seit drei Jahren verheiratet und wenn er darüber spricht, wie wenig er raucht, dann nimmt er die offene Packung Mohawk in die Hand und sagt, so eine Packung mit 19 Zigaretten, die reicht uns einen Tag. Wir, uns, das sagt er immer wieder und wundert sich selbst über das gute Eheleben, das er führt, denn mit dem Heiraten hatten wir es eigentlich nicht so in unserer Generation.


United Colours   Collage/Montage auf Holz    50x150cm   1994 


Jahrgang 54. Jüngstes von vier Kindern. Die Eltern haben ein Textilgeschäft, das soll er mal übernehmen. Interessiert ihn nicht, aber die Muster der Stoffe faszinieren ihn, die sie verkaufen, und während der künstlerische Nachwuchs seiner Kohorte psychedelisch inspiriert weinende Vaginen malt und erigierte Penisse, aus denen exotische Blumen spritzen, malt Burchard ganze Kladden voll mit Musterentwürfen. Und wie viele andere auch sammelt er: Fußballbilder, Briefmarken, Münzen, später Schallplatten (Deep Purple, Black Sabbath, Uriah Heep und die Folgen). Aber er hört nicht wie viele andere irgendwann auf mit dem Sammeln. Als Erwachsener fängt er erst richtig damit an. Nach dem Abschluss seines Grafikdesign-Studiums zieht er 1982 nach Berlin, arbeitet als Grafiker und dann fängt das auch schon bald an, dass er aufhebt, was andere achtlos weggeworfen haben, und es mit nach Hause nimmt: Streichholzheftchen, Zigarettenpackungen, Fahrscheine, Bonbonpapierchen, Etiketten. Alltagsabfall. Was es damit auf sich hat, behält er erst mal für sich. Airbrush-Bilder entstehen, in denen er seinen Spaß an Labels, Verpackungen, Ästhetik der Warenwelt seriell ausspielt, aber das ist es noch nicht; die Bilder zeigt er Besuchern, doch er hat sie nie ausgestellt. Die Glaskästen und die Tableaus, die er gestaltet mit Fundstücken von der Straße, die stellt er aus. Aber es fehlt noch etwas. Es ist noch zu sehr wie, was er macht, zum Beispiel wie Arbeiten des Nouveau Réaliste Arman, und zu ähnlich den Objekten seines Freundes Stefan Nestler, mit dem er im Overall und mit Plastiktüte in der Hand durch ost- und westeuropäische Metropolen zieht, um Abfall von der Straße aufzulesen. Es fehlt noch ein Verfahrensschritt, mit dem er den Abfall, den er säckeweise nach Hause schleppt, mit dem er das dann sortenrein in seinem Magazin akkumulierte Alltagsmaterial direkt zu Kunst verwerten kann.  

Spektrum (6-tlg.)   Akkumulation   125x291cm   1994


Nach der Euro-Einführung macht die Bundesdruckerei in der Oranienstraße eine PR-Aktion: Interessenten können sich eine Tüte mit geschredderten D-Mark-Scheinen abholen. Viel Material ist nicht in der Tüte, die jeder bekommt. Es ist zu wenig, um es eindrucksvoll zu akkumulieren und zu zeigen unter Glas. Aber zeigen möchte er die Geldscheinschnipsel. Deshalb klebt er sie auf Holzplatten. Die finden sofort Abnehmer und Burchard hat es: ein Verfahren, um Alltagsmaterial so aufzubereiten, dass er mit ihm gestalten kann wie in Papierschnitten. Er sammelt, sortiert, akkumuliert, der Schredder schneidet, und er klebt die Papierstreifen auf einer Holzplatte zusammen zu – was? – Zu einem Bild? Das ist es nicht, ein abstraktes Bild. – Zu Mustern? So sieht es aus auf den ersten Blick. Aber bei näherem Rangehen auch wieder nicht. Und näher rangehen, um genauer hinzusehen, das macht man unwillkürlich, wenn man Burchards Objekten gegenübertritt. Weil da etwas ist, das einen an etwas erinnert. Und wenn man es nicht erkennt, dann hilft einem der Titel des Bildes: Persil? Na klar! Das Rot und das Grün von Persil-Packungen. So erzählt jedes Objekt die Geschichte seiner Herkunft, seines Entstehens. Doch wäre es nur das, dann wären die Shredart-Objekte nicht mehr als liebevoll und pfiffig gemachte Bastelarbeiten. Aber es passiert mehr, wenn man näher ran geht und dann wieder zurücktritt, das Objekt macht mehr mit dem Betrachter, als ihm davon zu erzählen, wie es entstanden ist. Was macht es mit dem Betrachter? Jeder zeigt seine Freude anders:
Weder reine Konstruktion abstrakt-autonomer Bildlichkeit noch bloße Ästhetisierung der Lebenswelt aktualisieren Shredded Icons eine ganz eigenständige Art künstlerische Ikonographie. Die aus der Dekonstruktion prototypischer Frühformen des säkularen Bilderkults gewonnene spezifische Aura des Schönen erweist sich zugleich als Reflektion auf generelle Bedingungen und Funktionen moderner Ikonenproduktion.  
Das steht allen Ernstes am Ende eines Textes auf der Website von Burchard, den ein Literaturwissenschaftler für ihn verfasst hat. Ich habe Burchard im Moment der Begeisterung nur angestrahlt und zu ihm gesagt: Du hast dir deine eigene Welt geschaffen. Dabei hätte ich noch vor Freude in die Hände klatschen können wie ein kleines Kind. Das habe ich nicht getan. Aber gefühlt habe ich mich so in dem Moment der Begeisterung. Den Text auf der Website  hatte ich da noch nicht gelesen.

Persil   Collage auf Holz   100x100x6 cm   2010
Abbildungen: © Burchard Vossmann