Montag, 3. Oktober 2011

Gutgläubig

Zimmerstraße. Die mündet in die Friedrichstraße direkt am Checkpoint Charlie. Ich bin hier nicht wegen Tag der Einheit, auch nicht wegen Touristen-Angucken, sondern wegen einer Peter-Aktion: Ich will den Mann besuchen, mit dem Peter aufgewachsen ist in einem Mannheimer Arbeiterviertel und der hier eine Galerie hat. Peter wollte immer, dass ich einmal seinen Kindheitsfreund und dessen Frau kennenlerne, er Bildhauer und Galerist, sie ehemalige Journalistin und Klavierspielerin, am liebsten Béla Bartók. Im Schaufenster brennt eine Kerze, aber Peters Freund scheint nicht da zu sein. Klingel sehe ich nicht, ich strenge mich allerdings auch nicht an, sie zu finden, weil es ist mir lieber so, dass ich niemanden antreffe. Die Galerie ist eine Art Althippie-Kramladen, malerisch, trostlos, originell, deprimierend. Nichts, worauf ich mich in meinem Zustand einlassen möchte. Im Fenster neben selbstgemachtem Tand und Nippes ein Bildband: Die Arbeit am Verdorbenen. Deutsche Ausgabe. Französische Ausgabe: 


Die Arbeit am Verdorbenen - chinesisch Gu - ist eines der 64 Zeichen des I Ging. Da ich schon mal hier bin, gehe ich vor zum Checkpoint Charlie und fotografiere, was dort alle fotografieren. Auf dem Weg zurück zu meinem Fahrrad sehe ich, wie ein junger Mann sich bückt und etwas vom Bürgersteig aufhebt. Ärmlich gekleideter Mann. Er zeigt mir einen breiten Goldring, den er gerade gefunden hat. Ich freue mich für ihn und nicke ihm zu. Da steht etwas, sagt er. – Etwas eingraviert? – Er zeigt es mir. – Das ist der Goldstempel. Der Ring ist echt. – Er lächelt.  – Ich sage, den können Sie verkaufen, wenn es Ihnen mal schlecht geht, dann können Sie sich ein paar Brötchen kaufen für das, was ihnen der Ring bringt. Viel sicher nicht, es ist ein billiger Ring, aber das sage ich nicht. – Er sagt: Ich polnisch. Ich kein Dokument. – Tja, dann muss jemand anderer den Ring für Sie verkaufen. – Er: Du deutsch. – Ich: Ja und? – Er hält mir den Ring hin, ich soll ihn nehmen, bedeutet er mir und ich kapiere nun einfach nicht, was er will. Ich kapiere es wirklich nicht. Ich glaube tatsächlich, er will mir den Ring schenken und sage: Nein, nein, behalten Sie den Ring! Sie haben ihn gefunden. – Er: Ich kein Dokument. – Dann verkaufen Sie den Ring eben nicht. – Er lässt nicht locker. Er hält mir den Ring hin: Für dich. – Seine lockigen Haare sind fettig. Er hat entzündete Pickel im Gesicht. Wenn ich nicht so begriffsstutzig wäre, würde ich merken, dass er verzweifelt ist. Aber ich glaube wirklich, dass er mir den Ring schenken will und sage deshalb: Der Ring bringt Ihnen Glück. Sie dürfen ihn nicht hergeben. – Das glaube ich nicht wirklich. Ich will ihn einfach nur los werden. Aber er gibt nicht auf und spielt noch mal sein ganzes Repertoire ab: Ich polnisch. Kein Dokument. Du Deutsch. Für Dich.  – Ich sage nichts mehr und gehe weiter. Nicht zu fassen: Er hat mir den Ring aufgedrängt mit einer solchen Energie, als ob er mir etwas verkaufen wollte. Denke ich - was heißt denken? –, es geht mir durch den Kopf und jetzt erst kapiere ich: Er wollte mir den Ring verkaufen. Dass ich das Geschenk annehme, wäre nur der erste Zug gewesen. Im zweiten Zug, wenn ich den Ring in der Hand gehabt hätte, dann hätte er mich aufgefordert, mich erkenntlich zu zeigen für den zu erwartenden Gewinn, den ich mit dem Verkauf des Rings machen werde. Ob er damit schon mal Erfolg hatte? Ich kann es mir nicht vorstellen, dass er es schon mal geschafft hat, jemandem mit dieser Nummer Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber dass jemand so gutgläubig ist wie ich, dass er keine Chance hat, es wenigstens zu versuchen, das dürfte er auch noch nicht erlebt haben.