Sonntag, 31. Oktober 2010
Gespenster
Bestgeöffneter Lidl am U-und-S-Bahnhof Innsbrucker Platz. Es ist heute deutlich mehr los als sonst am Sonntagnachmittag. Nähe Obst-und-Gemüse-Stand. Satz: Das ist ja wie im Kriegszustand. Wer hat das gesagt? Eine schlecht gelaunte mittelalte Frau, die das zu sich selbst gesagt hat. Und sie weiß wahrscheinlich gar nicht, wie recht sie damit hat. Dass es heute noch voller ist als sonst, liegt nämlich daran, dass vielen Leuten heute erst eingefallen ist, dass am Abend wegen Halloween vermummte Kinder vor ihrer Tür stehen werden und Süßigkeiten ausgehändigt bekommen wollen. Und das kommt wiederum daher, dass der Irak 1991 Kuwait überfallen hat, im Jahr darauf eine alliierte Armee unter Führung der USA das Land befreite und dass in Deutschland, das keinen einzigen Soldaten an den Golf schickte, eine Hysterie ausbrach, die dazu führte, dass der Karneval abgesagt wurde. Das wiederum brachte der deutschen Verkleidungsindustrie einen Umsatzeinbruch, womit sie sich nicht abfinden wollte, und führte zur Gründung der Fachgruppe Karneval im deutschen Verband der Spielwarenindustrie. Das hört sich an wie Realsatire, die sogenannte Fachgruppe erwies sich jedoch als äußerst schlagkräftiges Unternehmen, dem es gelungen ist, weite Teile der Bevölkerung so zu formatieren, dass die Betroffenen sich nicht mehr daran erinnern können, wie es war, als der 31. Oktober nichts mit Verkleiden und Süßigkeiten zu tun hatte. Bitte lesen den Selbstdarstellungstext der Fachgruppe - ab zweitem Absatz. - Auf dem Rückweg vom Innsbrucker Platz hatte ich eine schlecht gelaunte Vision vom Totalitarismus des Marketing und davon, wie sich die Population unter der Führung von älteren Männern wie mir davon befreit, indem sie eigenes - kostenfreies - Brauchtum generiert. Zum Beispiel den Brauch, am Abend des 31. Oktobers in selbstgebastelten Gespensterklamotten loszuziehen und verkleidete Kinder zu überfallen, um ihnen ihre Süßigkeiten abzunehmen. - Während ich diese Vision in einem schlecht gelaunten Text umständlich darstelle, läutet es an meiner Wohnungtür. - Drei mir persönlich bekannte kleine Gespenster mit Vampirgebissen werden von mir mit dem Satz begrüßt, den ich jedes Jahr sage: Ihr seht ja furchterregend aus. Darauf erhält jedes Gespenst eine Tüte Haribo Colorado ausgehändigt. Vom schon etwas älteren Mädchen, das die Gespenster begleitet, sagt eines der Gespenster: Die will nichts. - Eine halbe Stunde später läutet ein mir persönlich unbekanntes winziges Einzelgespenst (seine Begleitung hat sich versteckt). Das Gespenst sieht aus wie in einem Cartoon. Es ist ein vollkommenes Bilderwitz-Gespenst. Und wenn das nicht alles so geschäftsmäßig wäre mit Süßes-oder-Saures-sagen, Überreichen der Haribo-Tüte und grußlos weg, dann hätte ich bestimmt auch gelacht. - Danach scheint es vorbei zu sein. Ich habe noch eine Tüte Colorado. Wie letztes Jahr werde ich sie wahrscheinlich nun erst monatelang rumliegen lassen und dann irgendwann über sie herfallen und mich hinterher wieder wundern, warum mir nicht schlecht ist, obwohl ich ihren Inhalt komplett aufgegessen habe. Warum wurde mir als Kind schlecht von zu vielen Süßigkeiten und heute wird mir höchstens vorübergehend unbehaglich? Ist das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? - Gegen 20 Uhr läutet es noch mal. Ich habe jetzt eigentlich keine Lust mehr. Nur wenn es ein zweites Mal läutet, werde ich zur Tür gehen. Es läutet ein zweites Mal. Zwei Mädchen aus dem Haus. Vampire. Ihr seht ja schön aus, sage ich ehrlich entzückt und bedaure, dass ich nur noch eine Tüte Haribo habe. - Die Vampire sagen unisono: Wir teilen. - Ich sage: Einen Moment! und gehe in die Küche zu meinen Schokoladenreserven. Weil ihr so schön ausseht, kriegt ihr noch was Zweites, sage ich und stecke noch eine Tafel Ritter Sport Schokolade in den mir hingehaltenen Beutel. - Die beiden Vampire sagen unisono: Danke! und verabschieden sich mit Augenaufschlag. - Danach überarbeite ich meinen viel zu langen, schlecht gelaunten Text und schreibe am Ende hinein, dass mir Halloween dieses Jahr eigentlich gefallen hat. Inzwischen bin ich noch viel schlechter gelaunt und habe den schlecht gelaunten Text auf das Nötigste zusammengestrichen.
Samstag, 30. Oktober 2010
Aftermath
Der Typ ging schon zwei Jahre lang im Haus Richards ein und aus. Richards hielt ihn für den Dealer seines Sohnes. Irgendwann beim Abendessen fiel sein Blick auf den Dealer seines Sohnes und auf einmal dämmerte es Richards: Hilfe! Edward mit den Scherenhänden. – Johnny Depp, Jahrgang 63, Marlon Richards, Jahrgang 69. Befreundet die beiden, warum nicht? Meine Vorstellung: dass Johnny Depp es von Anfang an darauf angelegt hat, in die Nähe von Keith Richards zu kommen, Weil er die Idee verfolgte, den Captain Sparrow in Pirates of the Carribean anzulegen mit dem Gehabe und dem Persönlichkeitsstil von Keith Richards. Diese Art, eine Rolle zu erarbeiten. Einen weltbekannten Freak sich als Vorbild auszusuchen. Sich Zugang zu verschaffen zu seinem Privatleben, ihn zu beobachten. Freundschaft mit ihm zu schließen, ihm noch näher zu kommen. Ihn hinein zu ziehen in das Projekt, das ihm schmeichelt. So fällt für alle was ab. Für Keith Richards eine neue Marke (Branding, meine ich). Den unsäglichen Totenkopfring, den hatte er vorher schon. Mental war er immer schon ein Pirat. – Worauf will ich hinaus? Ich treibe mich nur weiter im Thema von gestern herum. Wäre mir die Wendung mit Johnny Depp nicht eingefallen ganz zum Schluss, wäre es schief gegangen. Feuilleton mit Zitaten und die dann auseinander nehmen, das hätte ich nicht gemacht. Dann hätte ich es gelassen. Schreiberischer Totalschaden. Unfallursache: Abfälligkeit. Weil ich nicht wusste, wohin mit der Abfälligkeit, die sich angesammelt hatte beim Lesen der Artikel über das Keith-Richards-Buch. Darüber wollte ich eigentlich schreiben; was mir beim Lesen der Artikel passiert ist. Aber dann hat sich die Abfälligkeit so verstärkt beim Schreiben, dass ich nicht mehr wusste wohin damit. Fahrgeschäft in Disneyland, das war es dann. Und jetzt komme ich schon den ganzen Tag nicht weg von dieser Erfahrung und nicht vom Thema. Weil ich von der Abfälligkeit nicht runterkomme. Wie nach einem Wutanfall der Aufruhr in den Gedanken noch stundenlang anhält, obwohl der Anlass schon längst vorbei und bewältigt ist. Dabei: Was hat die Abfälligkeit ausgelöst? Die Abfälligkeit von Keith Richards war es, seine Erhabenheitsmasche, die hat mich angewidert und in Reaktion darauf habe ich mich in einen Zustand gebracht, in dem ich mich selbst angewidert habe. – Gestern schon mich immer wieder gefragt: Weißt du denn nichts Gutes zu sagen über Mr. Richards? – Antwort war da schon: Oh doch! Aftermath. Beggars Banquet. Let It Bleed. Sticky Fingers. Some Girls. - Exile On Mainstreet habe ich nicht vergessen, ich wollte nur mal die für mich lebenswichtigen Stones-Alben nennen. Wichtigste Songs? Das wechselte. Immer dabei: Salt of the Earth.– Ritual: Den Rest des Tages Stones hören. Ich fange an mit Aftermath und versuche auf andere Gedanken zu kommen. Andere Gedanken sind die immer gleichen Gedanken in diesen Tagen: Erster Teil des Blogs ist abgeschlossen. Die Liebesgeschichte ist zu Ende erzählt. Sie wird im zweiten Teil überraschend - es kann nur überraschend sein, denn nichts deutet darauf hin - ein glückliches Ende nehmen. Oder sie wird nur noch Erinnerung sein. Deshalb kann das Tess-Theater auf der anderen Straßenseite jetzt aufhören. Kann das bitte jetzt mal aufhören?! Nicht das Licht. Mach weiter mit dem Licht, wenn es Dir gefällt. Mir gefällt es auch. Aber mit dem Puppentheater oder dem Schattenspiel, egal wie es nennen, hör damit bitte auf! Ich verstehe nicht, was Du da tust. Es ist mir so unverständlich, dass ich lieber denke, dass Du das gar nicht bist. Und ich werde es auch nicht beschreiben. Ich werde eher den Vorhang schließen, um es nicht mehr ansehen zu müssen, als es zu beschreiben. – Puppentheater. Schattenspiel. Das ist Repertoire des ersten Teils. Siehe oben: Abgeschlossen. Im zweiten Teil wird alles real. Fassbar. Fragen. Antworten. Die Personen haben richtige Namen. Sie sagen ja oder sie sagen nein. Und wenn sie vielleicht meinen, dann sprechen sie es aus, so dass ich es hören kann und ihren Gesichtsausdruck dabei sehe. Im zweiten Teil bin ich lieber ganz alleine, als dass ich mich weiter in unerfüllbaren Wünschen verliere. – Das Ritual funktioniert. Nach Aftermath werde ich Beggars Banquet hören. Da kenne ich jeden Song auswendig. Und welcher Song hier zum Schluss? – Eine Episode der Sopranos in der dritten oder vierten Staffel endete mit Moonligt Mile. Die Stimmung am Ende der Episode verdichtet im letzten Titel von Sticky Fingers, das ich bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr gehört hatte. Perfekter Schluss-Song: Moonlight Mile.
Freitag, 29. Oktober 2010
Mr. Richards
In den 80er Jahren sind Keith Richards und Mick Jagger einmal zusammen von London nach New York geflogen. Das Flugzeug kam in schwere Turbulenzen. Triebwerke fielen aus, sprangen wieder an, fielen wieder aus. Es wurde geschrien, gebetet, gewimmert, gekotzt. Während Jagger und Richards nur seelenruhig Whiskey nachorderten und der Stewardess, um sie zu entlasten, vorschlugen, die Flasche gleich da zu lassen. Die Stewardess hat das hinterher voller Bewunderung für die beiden prominenten Fluggäste erzählt. Tolle Geschichte. Darüber, wie der Mythos der Rolling Stones unter äußerstem Stress standgehalten hat. Als ich die Stones Mitte der 90er Jahre zum letzten Mal live gesehen habe, bei einem der schlimmsten Konzerte, die ich überhaupt gesehen habe in meinem Leben, musste ich irgendwann im sich quälend hinziehenden Mittelteil an diese Geschichte denken und habe mir gedacht, wie viel besser es für den Mythos der Rolling Stones gewesen wäre, wenn der Flug damals nicht in New York angekommen wäre. So kann natürlich nur ein Fan denken, ein harter Fan, harter Stones-Fan, der ich mal war. – Von Mick Jagger war vor ein paar Jahren zu lesen, dass er einen hochdotierten Buchvertrag abgeschlossen, dann aber bald die Arbeit mit dem Ghostwriter abgebrochen hat. An seine Begründung kann ich mich nicht mehr erinnern, nur noch daran, dass sie mir einleuchtete und ich auch nicht das Gefühl hatte, dass mir oder sonst wem dadurch etwas verloren gegangen ist. Keith Richards hingegen hat seinen hochdotierten Buchvertrag erfüllt. Er hat einem ihm in Bewunderung ergebenen englischen Journalisten sein Leben erzählt, der hat es aufgeschrieben, Richards hat es hinterher editiert und zwar nach Gehör; der Autor musste ihm das Manuskript vorlesen – und jetzt staunt die Welt alleine schon darüber, an wie viel sich Keith Richards noch erinnern kann nach allem, was sich der Mann in seinem Leben gegeben hat an illegalen und legalen Drogen. - Keith Richards, Life. - Werde ich das Buch lesen? Unwahrscheinlich. Aber ich lese alles an Berichterstattung darüber, was mir im Internet begegnet. Wegen der alten Zeiten und in der naiven Hoffnung, etwas über die Stones zu erfahren, was ich noch nicht weiß. Doch ich erfahre nur, was für ein Klischee seiner selbst Mr. Richards ist – und wie er es versteht, sich mit seiner Masche beliebt zu machen. - Pirates of the Caribbean – Johnny Depp adaptiert und kolportiert die Keith-Richards-Gestalt – wurde inspiriert durch ein Fahrgeschäft in Disneyland gleichen Namens und Themas – eine sogenannte Themenfahrt, also letztlich ein Karussell, mit Piratenmotiven. Die Filmreihe ist ein Riesenerfolg. Was wohl vor allem an der Beliebtheit Johnny Depps liegt, der ein großer Verehrer von Keith Richards sein soll und mit ihm auch schon mal in London durch die Nacht zieht. Ich nehme an, beides, die Verehrung für und das Herumziehen mit Keith Richards, ist reiner Opportunismus von Johnny Depp – um den Persönlichkeitsstil seines Vorbilds aus der Nähe studieren zu können - und bestimmt auch schon ein bisschen Kampagne für Pirates of the Carribean 4. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann, der mit Vanessa Paradis zusammenlebt, Spaß daran hat, sich bis ins Morgengrauen das Altmännergerede von Keith Richards anzuhören. Ich habe es nicht mal ertragen, Zitate dieses Altmännergeredes für einen Text zusammenzustellen, in dem ich meine Eindrücke von der Berichterstattung über das Buch schildern wollte. Bis ich zu der glücklichen Einsicht gekommen bin: ich muss gar nicht über Keith Richards schreiben, auf jeden Fall nicht mit Zitaten. Stattdessen im Anschluss die Links zu den Artikeln, die ich gelesen habe. Bitte beachten die Stelle im NYT-Kommentar (*), wie er sich zum Thema Misogynie der Rolling Stones äußert: Er doch nicht. – Und was ist mit Under My Thumb? – Er hat nur die Musik gemacht. Der Text ist von Jagger. – Das auch noch. Der Pirat als Schleimer.
Keith Richards Has Memories to Burn; A Writing Stone: Chapter and Verse; When a Pirate Is the Voice of Chivalry (*); 12 Juiciest Bits From Keith Richard´s Memoir; Keith Richards and Me.
Donnerstag, 28. Oktober 2010
Fein
Der Text über Keith Richards ist nicht fertig geworden. Wegen des langwierigen Zusammensuchens der Zitate aus den Artikeln, die ich gelesen habe über sein Buch; und weil ich mir das noch mal überlegen muss mit Gimme Shelter und der Umarmung von Anita Pallenberg in einer Drogennacht. Aufwendig. Die Auftraggeberin (Brasilien) hat nicht erwartet, dass das so aufwendig werden wird mit dem Text für ihre Website. Doch der Aufwand war notwendig, damit wir uns im Gespräch heute darüber klar werden konnten, was wir eigentlich kommunizieren wollen und welche Informationen ich brauche, damit ich weiß, was sie weiß. So läuft das. Es läuft immer so. Und dann läuft es unerwartet gut heute Nachmittag. Der abgebrochene Schlüssel meines Fahrradschlosses ragte so weit aus dem Schloss, dass ich ihn mit der mitgebrachten Kombizange mühelos drehen und so das Schloss öffnen konnte. Ich war heute also zweimal beim Hallenbad am Sachsendamm: einmal heute Morgen, als mir der Schlüssel abgebrochen ist, und nicht mal Knack hat es gemacht; und noch mal gegen 14.30 Uhr mit Kombizange. Preis für das Nachmachen des Schlüssels im Schlüssel- und Schlossladen auf der Akazienstraße: sechs Euro, statt über 30 Euro für ein neues Schloss. Die Tess. Die Tess zeigt mir, dass sie da ist (Licht, Huschen). Und ich weiß nicht, was sie will. Dass ich nicht aufhöre, immerzu an sie zu denken? Oder dass ich weiter über sie schreibe? Was denn, Tess? Mit jedem Tag habe ich weniger Lust, über die Szene auf der Akazienstraße zu schreiben. Das ist ja nicht nur der Blick von Dir, das sind all die Vorstellungen, die ich hineinlege in den Blick und in die Szene, weil ich keine anderen habe, solange ich nichts anderes weiß von Dir als das, was ich gesehen habe und mir denke dazu. Geld. Das ist jetzt das Thema. Das ist der neue Haupterzählstrang. Geld und kein Geld. Wie über kein Geld reden, offensiv, ohne dabei rüberzukommen mit der Aura eines Langzeitarbeitslosen, der auf dem Bürgersteig kauert und die Hand hinhält, nicht mal ein Tellerchen hat oder einen Hut für die Münzen der Passanten – oder einen Säugling, wie eine Sinti-Frau ihn im Arm hält zur Illustration ihres Elends? Guter Hinweis: Die Armut bedarf der Illustration, um erfolgreich zu sein. Betteln. Auch das ist ein kommendes Thema. Das wird noch was werden! Harter Schnitt auf die Wand neben der Eingangstür zum Gartenhaus. Angeklebte Klarsichthülle. Darin ein Text mit Foto. Seit drei Wochen wird die Katze vermisst. Die Halterin schreibt, dass sie sehr traurig ist. Sie hätte auch schreiben können, verzweifelt. Sie vermutet, sie hätte auch schreiben können, sie hofft, dass die Katze in einem Schuppen oder einem Kellerraum eingeschlossen ist, und sie bittet uns alle, darauf zu achten. Für den Fall, dass wir die Katze sehen, schreibt die Halterin: Sie hat grüne Augen und ein feines Gesicht. Sie hört auf den Namen Koshka! – Hat nicht jede Katze ein feines Gesicht? - Nein.
Mittwoch, 27. Oktober 2010
Haken
Eine Geschäftsidee, die eine Erzählidee ist. Erzählidee, auf die ich nicht gekommen wäre, wenn ich nicht ständig angestrengt darüber nachdenken würde, wie ich an Geld rankomme. Hervorgegangen aus den Überlegungen zum Sponsoring: Was kann ich einem Sponsor bieten? Dass er vorkommt im Blog als Sponsor und dass das Biest gut zu ihm sein wird. Unterwürfig aber nicht. Das muss von vornherein klar sein. - Das ist der schlichte Sponsoring-Ansatz, noch nicht die Geschäftsidee und die Erzählidee. Der Sponsoring-Ansatz ist nur der Ausgangspunkt gewesen der Überlegungen vom Sonntag, die zu der Erzählidee führten. Die würde ich am liebsten jetzt ausbreiten und schreibend ausmalen. Das untersage ich mir jedoch. Denn habe ich es erst mal hingeschrieben, dann muss ich es nicht mehr machen. Es ist aber dringend notwendig, dass ich es mache. Vorläufig nur das: Die Erzählidee ist eine kommerzielle Erzählidee. Aber das ist nicht eine Behinderung, wie es eine Behinderung und letztlich eine einzige Verhinderung ist, eine Erzählidee für die Fernsehindustrie zu entwickeln und zu bearbeiten, wo man beim Vermeiden dessen, was alles nicht sein darf, und dem Berücksichtigen der menschlichen und anderen Begrenztheiten der Verantwortlichen in eine Haltung hinein gerät, die nicht anders denn als Kreativitätsstarrkampf beschrieben werden kann. Wobei die Haltung der Verantwortlichen selbst auch ein Starrkrampf ist, indem sie sich hineinzuversetzen versuchen in ein Publikum, das ihnen völlig fremd ist und auch völlig gleichgültig wäre, das sie eigentlich verachten würden, wenn nicht ihre Existenz abhinge von diesem Publikum. – Die Kommerzialität meiner Erzählidee ist keine Behinderung; für andere wäre sie das wahrscheinlich, doch nicht für mich, wenn ich sie umsetze als der, der ich geworden bin beim Schreiben dieses Blogs. Im Gegenteil ist es so, dass die Kommerzialität mir Freiheiten schafft, die es ohne den Geschäftscharakter nicht geben würde, und dass es die ganze Idee nicht gäbe ohne die Absicht, damit ein Geschäft zu machen. – Die Idee hat nur einen Haken. Im Grunde genommen ist die Idee ein einziger Haken. Denn ich bin bei ihrer Realisierung gänzlich abhängig von anderen. Von ihrem Geld und von ihrer persönlichen Teilnahme an dem, was ich vorhabe. Und wenn ich mir nun anschaue, wohin meine einfachsten Bemühungen, andere für mich und mein Leben oder meine Unternehmungen zu interessieren, zuletzt geführt haben – zu den bizarren und fruchtlosen Verwicklungen mit der Tess; zu gerade mal zwei Kommentaren nach 170 Posts in diesem Blog - und wenn ich danach meine Wirkung auf andere einschätze, dann kann ich nur sagen: Am besten, ich sperre die Kommentarfunktion, dann sieht es aus wie Absicht. Und sonst: Fang bloß nichts Lebenswichtiges an, bei dem du auf andere Leute angewiesen bist. - Das kenne ich nun aber schon. Das habe ich fast zwei Jahrzehnte lang gemacht. Das war das Projekt, im Alleingang den vollkommenen Plot zu entwickeln – so vollkommen, dass er nicht abgelehnt werden kann, nicht einmal von Frau Doppelname in Baden-Baden, die ich mir zur Feindin gemacht habe, weil manchmal muss es einfach sein. Das Modell des Ganz-auf- mich-Gestelltseins, es hat mich verarmt, vereinsamt, was noch? – Reicht doch schon, um es jetzt auf eine ganz andere Art zu versuchen. In ganz kleinen Schritten. Auch deshalb noch nicht mehr über die Idee. Weil ich mich ganz langsam herantasten will. Erst mal die Voraussetzungen ausprobieren und dann erst weiter gehen will. Darüber werde ich berichten. Wer mich beobachtet, wird bald mitkriegen, was ich vorhabe.
Dienstag, 26. Oktober 2010
Wagenbach
Lange überlegt, schreibe ich das noch rein, dass das in Auschwitz war, wo Editha zur Zwangsarbeit selektiert wurde und ihre Mutter und ihre Schwester nicht, oder lasse ich das so wie es ist, weil die Leser bei Rampe ohnehin Auschwitz assoziieren werden, wie ich es tue. – Ich entscheide mich dafür, es zu lassen, wie es mir beim Schreiben eingefallen ist, ohne den Namen Auschwitz. Mit der Überlegung, dass es besser so ist, weil wenn die Leute Auschwitz lesen, da schalten sie sowieso gleich ab – da denken sie an ein Ausmaß von Grauen, das nicht mehr vorstellbar ist, und deshalb haben sie es ab irgendwann lieber gelassen, es sich vorzustellen, oder sie gehen reflexartig in den Widerstand, wenn ihnen der Name Auschwitz begegnet, weil sie es nicht mehr hören wollen oder können und es nun endlich mal genug sein soll damit. So oder so erreicht sie dann nicht mehr, was ihnen erzählt wird, und so betrachtet war das eine richtige Entscheidung meines Bewusstseins, es mich beim Schreiben vergessen zu lassen, den Ort zu nennen, an dem die geschilderte Schlüsselszene im Leben Editha Fischers sich ereignet hat. – Auch noch von gestern: Beim Schreiben eines Briefes taucht plötzlich ein Wort auf, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe. Dazu in einer Mail an Stephanie heute Früh: Habe übrigens Quincy angemailt wegen Info über Stephan Buck für Henny. Aber der Kloben hat sich trotz Nachfassens noch nicht gemeldet. - Kloben ist mein neues Lieblingswort. Das ist gestern an die Oberfläche aufgestiegen aus den Tiefen meines Vokabulars. Ein Ausdruck meines Großvaters, der selbst ein Kloben war. - Jetzt frage mich aber bitte nicht, was genau ein Kloben ist. Das muss man sehen. XXXXXX ist zum Beispiel auch ein Kloben. Wobei Kloben aber nichts mit dick zu tun hat. Mein Großvater war nicht dick ... (Weitere Bemerkung über meinen Großvater gestrichen, weil ich mich hier nicht über meine Familie äußern will, so wie ich mich hier auch nicht äußere über die Leute in dem Haus, in dem ich wohne) ... Du merkst, ich bin in Plauderlaune. Das kann heute noch was werden! – Inzwischen hat sich Quincy gemeldet. Und inzwischen war ich auch endlich in der Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße in Mitte wegen des Sartre-Interviews in Freibeuter 5/1980. Vorher angerufen, damit der Titel für mich bereitgelegt wird, um das Interview lesen zu können dort und anschließend zu kopieren (keine Ausleihe von Zeitschriften). Dann komme ich eineinhalb Stunden später in den Kellerraum, in dem die bestellten Titel ausliegen, falle beinahe die Treppe runter, weil ich schwungvoll die unteren zwei Stufen übersehe, bleibe unverletzt, finde aber im Regal keinen Freibeuter Nr. 5/1980. An der Information stellt sich heraus, dass der Teil des Archivs, in dem das Zeitschriftenexemplar sich befindet, wegen Umbauarbeiten in der Bibliothek ausgelagert ist. Das hat die Frau mit der niedlichen Stimme, die meine Vormerkung am Telefon so freundlich entgegen genommen hat, nicht gewusst, weil sie nicht auf den unteren Rand der Bildschirmanzeige des Titels geguckt hat, wo es vermerkt ist, dass er derzeit nicht verfügbar ist. Das zeigt mir jetzt die Frau an der Information, indem sie den Bildschirm zu mir herdreht, damit ich es selbst sehen kann. Sie macht das deshalb, weil ich sie so ungläubig angeschaut habe, als sie mir sagte, dass die Zeitschrift nicht bereitgestellt werden kann, wegen der ich mit der U-Bahn von Schöneberg nach Mitte gefahren bin, und jetzt stehe ich da und muss einsehen, dass das passieren kann und es nicht zu ändern ist, dass die Kollegin nicht auf den unteren Rand des Bildschirms geguckt hat im Übereifer ihrer Niedlichkeit. Danach bin ich den Weg zurück nach Schöneberg zu Fuß gegangen, damit ich wenigstens etwas getan hatte. Während dessen habe ich über die zwei Unentschiedenheiten des Tages nachgedacht. Ob ich das weiter verfolgen soll mit der Geschäftsidee, die eine Erzählidee ist – ob ich mich da nicht nur immer weiter an die Plotterei klammere, anstatt sie ganz hinter mir zu lassen? Und dann noch: Ob ich das machen soll, über die Geschichte der Tess zu schreiben von der Tess aus gesehen – ob ich das mal endlich gut sein lassen soll oder diesen Moment noch beschreiben auf der Akazienstraße im Frühling vorletzten Jahres? Um ihn zu betrachten - von mir aus, von ihr aus, völlig egal, auf jeden Fall frei von der ganzen Aufregung, mit der ich bislang über die Tess geschrieben habe. Darauf gab es dann sogar eine Antwort: W e n n, dann in aller Stille. – Zu Hause hatte ich eine Mail von Stephanie, bei der es heute auch nicht so gut gelaufen ist. Wegen Bahnstreik konnte sie nicht nach Kassel fahren, stand also umsonst um 6 Uhr im Münchner Hauptbahnhof. Am Ende schreibt sie: Mal sehen, was Du in Deiner Plauderlaune heute so bloggst?! – Antwort: Dass es schließlich doch noch gut ausgegangen ist mit dem Freibeuter 5/1980. Nachdem ich das hier geschrieben hatte - mit einem Schluss darüber, dass mir im Laufe des Tages meine gute Laune und damit auch die Plauderlaune vergangen ist -, danach habe ich nämlich beim Wagenbach Verlag in der Emser Straße angerufen, bei dem der Freibeuter erschienen ist. Die Nummer des Vertriebs hatte ich gewählt, und obwohl es bereits 18.30 Uhr war, ging noch jemand ran. Leider habe ich den Namen nicht richtig verstanden, mit der die Frau sich meldete. Ich habe ihr umständlich erklärt, dass ich ein Privatmann bin, womit ich sagen wollte: kein Vertriebspartner, sondern ein Leser. Womit ich bei ihr aber trotzdem an der richtigen Stelle war. Nachdem ich ihr geschildert hatte, was ich will, sagte sie, dass sie mir kein Exemplar von Freibeuter Nr. 5/1980 verkaufen könnten, weil sie selbst nur noch wenige Exemplare hätten; sie würden mir aber gerne das Sartre-Interview fotokopieren und es mir zuschicken. Unentgeltlich selbstverständlich. - Was?! Das wollen Sie machen? frage ich ungläubig. - Worauf sie: Wir tun alles für unsere Leser. - Nachdem ich ihr meine Adresse gegeben habe, bedanke ich mich ganz herzlich und überschlage mich dabei fast vor Freude über das Entgegenkommen. - Worauf sie wieder: Das machen wir doch gern. Wir sind ein leserfreundlicher Verlag. - Und weil man das nun wirklich nicht anders sagen kann, so komisch es klingt, ändere ich den Titel des Posts von - wie ursprünglich vorgesehen - Laune zu: siehe oben.
Montag, 25. Oktober 2010
Editha
Editha Fischer. Die werde ich demnächst besuchen in Moabit. Wohin sie verlegt wird zur Reha. Verlegt wird aus der Klinik in Lichtenrade, in der sie sich befindet seit ihrem Sturz im August, bei dem sie sich was gebrochen hat in der Körpermitte. Alte Frau, die sie ist, da will man das gar nicht präzisieren. Gestern um die Mittagszeit rief sie an. Erweckte den Eindruck, als hätten wir gerade eben schon telefoniert und jetzt ruft sie noch mal an. - Sie müssen sich verwählt haben, sage ich. - Sie sind doch Wolfgang Gensheimer, sagt sie. – Das ja. Aber ich kenne Sie nicht. – Sind Sie nicht mit Maria zusammen? – Ich bin mit niemandem zusammen. – Dann weiß sie auch nicht. Wir beenden das Gespräch und ich grüble: Editha Fischer. Editha Fischer. Editha Fischer. Die Stimme. Stimme einer älteren Frau. Ganz leichter osteuropäischer Akzent. Editha Fischer. Maria. Hat sie Maria gesagt? Und wie kommt sie zu meiner Handynummer, wenn ich sie nicht kenne? – Plötzlich! Ich sehe sie vor mir! Die Frau Fischer! Die alte Frau mit ihren kohlrabenschwarz gefärbten Haaren und ihrer Gehschwäche, deshalb am Stock. In der Grunewaldstraße wohnt sie. In einem Neubaukomplex. Und Raucherin ist sie immer noch in ihrem hohen Alter. Wie alt wird sie sein? Wie alt war sie, als der SS-Mann sie am Arm gepackt und von der Rampe gezerrt hat, weg von ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester? Transport aus Ungarn. Die Ungarn kamen zum Schluss dran. 1944 war das. Mitte oder Ende 1944. Da wird sie 14 oder 15 gewesen sein. Die Mutter zu alt, die kleine Schwester zu jung für die Zwangsarbeit. Geradeaus zum Duschen ins Gas. Nach rechts zum Sammelpunkt für die Eisenbahnfart ins sogenannte Reich. Wenn sie damals 14 oder 15 war, dann ist sie jetzt Anfang 80. Und in dem Alter so ein komplizierter Bruch. Schlimme Sache. Aber es wird wieder. Nur, es dauert. Und niemand, der sie besucht. – Sie besuchen mich doch mal, sagt sie, als wir dann noch mal miteinander sprechen, nachdem ich sie zurückgerufen habe, weil es mir keine Ruhe gelassen hat, dass ich sie nicht erkannt habe wegen meiner Begriffsstutzigkeit. Sie erklärt, dass sie mich verwechselt hat mit einem anderen Wolfgang, und fragt dann, wer ich nun bin. Sie weiß nämlich nicht, wie meine Nummer in das Verzeichnis ihres Handys kommt. – Ich erzähle ihr, dass ich mal mit ihr gesprochen habe für eine Recherche, die ich gemacht habe. Ina hat den Kontakt vermittelt, hätte ich noch sagen können, aber das ist mir erst hinterher eingefallen. Doch jetzt erinnert sich Frau Fischer auch so wieder an mich. Allerdings nur dunkel. Egal. Sie werden mich doch mal besuchen, wenn ich in Moabit in der Reha bin, sagt sie. So wie sie damals gesagt hat nach unserem Gespräch, ich soll sie doch mal wieder anrufen. Am besten nachmittags, da ist es immer so langweilíg. Ich habe sie nicht mehr angerufen. Einmal habe ich sie zufällig auf der Straße getroffen und ihr den Einkauf bis vor ihre Wohnungstür getragen. Und jetzt zögere ich, ihr zu versprechen, dass ich sie besuchen werde, und sie merkt das. Sie erzählt von einem Historiker, dessen Buch bald erscheinen wird. Der hat sie befragt über die Zeit, als ich bei Daimler-Benz gearbeitet habe, wie sie es formuliert. In Ravensbrück. In der ausgelagerten Kriegsproduktion. Der Historiker hat mehrere Seiten über mich geschrieben. Frau Fischer ist sehr gefragt als Zeitzeugin. Sonst nicht. Ihr letzter Mann ist schon lange tot. Keine Kinder. Keine Verwandtschaft. Wenige Freunde. Ins jüdische Altersheim könnte sie gehen. Das will sie nicht. - Es ist damals nicht viel für mich rumgekommen bei dem Recherchegespräch mit ihr. Mein Thema war gegenwärtiges jüdisches Leben in Berlin. Da hatte sie nicht viel dazu beizutragen. Es war ein deprimierendes Gespräch. Wegen der Einsamkeit der alten Frau. Aber ich habe dann meiner Lieblingsfigur in dem Plot, den ich später entwickelt habe, ihren Vornamen gegeben. Edith. Edith Katz. Die Großmutter aus New York, die in einem englischen Kinderheim überlebt hat, und zum ersten Mal zurück kommt in die Stadt ihrer Kindheit. Damit fängt die Geschichte an. – Die Einsamkeit der alten Frau. Ich höre ihr geduldig zu. Stelle Fragen. Doch dann ist alles gesagt. Ich versuche das Gespräch zu beenden. Mit Genesungswünschen und Aufmunterungen. Und während ich das tue, merke ich, dass das alles leeres Gerede ist und das Einzige, was ich ihr Gutes sagen kann, das ist, wenn ich jetzt sage: Rufen Sie mich wieder an, Frau Fischer, wenn Sie in Moabit sind. Ich werde Sie dort besuchen. – Daran, wie ich das sage, erkennt sie, dass ich das auch tun werde. Da kann sie sich darauf verlassen. Das weiß sie. Als wir uns verabschieden, meint sie: Dann wissen wir ja jetzt wieder, wer wir sind. Und in dem Moment klingt ihre Stimme wie die Stimme eines Mädchens.
Sonntag, 24. Oktober 2010
Gerne
Jetzt. Was ich Stephanie erzählt habe von der Tess. Beziehungsverhältnisse: Die Tess lebt mit dem Professor zusammen. Er ist ihr Freund oder ihr Lebensgefährte. Wie immer man es nennen will: Sie sind ein Paar. Verheiratet sind sie nicht. Die Andrea Mulder ist die Ex-Freundin oder Ex-Frau des Professors; möglicherweise sind sie verheiratet, dann aber getrennt lebend. Kann sein, dass sie eine Besitzgemeinschaft sind. Dass ihnen zusammen die Dachwohnung gehört, die hier schon so eine große Rolle gespielt hat. So wie ich den Professor und die Andrea Mulder einschätze, gehört die Wohnung ihr. Menschlich ist es zwischen den beiden wahrscheinlich so wie es bei uns ist, habe ich zu Stephanie gesagt: Die beiden kennen sich schon sehr lange. Waren mal zusammen. Haben sich getrennt, aber deswegen nicht verfeindet. Wenn einer den anderen braucht, sind sie für einander da. So wie im Sommer, wo er sie brauchte für seine seltsame Verwirrungsaktion gegen mich und sie für ihn gelogen hat. Das würdest du für mich auch tun, wenn ich so eine Aktion machen würde, auch wenn es dir seltsam vorkäme. Stephanie bestätigt das. – Dann habe ich ihr noch erzählt, was die Tess letzte Woche gemacht hat mit ihrem Eingehacktsein bei mir. Nun habe ich aber den Eindruck, dass die Tess nicht will, dass ich das hier preisgebe. Ich verstehe nicht warum. Denn es war nicht etwa eine sinnlos destruktive Aktion. Nur war sie noch nie zuvor so weit gegangen wie in diesem Fall. Deshalb habe ich so gestaunt. Und weil ich so gestaunt habe, wollte ich es hier unbedingt erzählen und mich erst nicht kümmern darum, dass das der Tess nicht passt. Jetzt denke ich jedoch, dass die Tess ihre guten Gründe haben wird, dass sie es nicht will. Und das akzeptiere ich, ohne die Gründe zu kennen. Ich schenke ihr das sozusagen. Ich werde nicht erzählen, was sie und warum sie es gemacht hat und welche andere Absicht sie noch damit verfolgt haben könnte neben der offenkundigen. Ich schenke es ihr, weil ich ihr gerne was schenke. Und weil ich es mir schenken will. Weil ich raus will aus diesen Geschichten und den Überlegungen dazu und den Mutmaßungen darüber. Und das, was ich Stephanie sonst noch erzählt habe über die Tess, das schenke ich mir auch. Kein Zurückblicken mehr. Also auch nicht die Geschichte der Tess aus ihrer Sicht? – Das ist was anderes. Viel weiß ich darüber ohnehin nicht. Gerade mal drei Sätze habe ich und ein Bild gibt es dazu, eine kleine Szene aus dem vorletzten Frühling. Die Szene ist angedeutet bei den Schnappschüssen am Ende von Brief 3: Die Tess vorüber gehend, untergehakt bei dem Mann in ihrer Begleitung. Mein Blick auf ihre Beine. Ihr Blick über die Schulter zu mir. - Wenn es mir gelingt, die Szene von ihrem Blick ausgehend zu erzählen, dann habe ich den Anfang der Geschichte der Tess von ihr aus gesehen. Vielleicht ist auch gar nicht mehr zu erzählen als diese Szene, weil in der schon alles drin ist, was ich weiß. Alles andere müsste die Tess erzählen. Vielleicht tut sie das irgendwann.
Samstag, 23. Oktober 2010
Maul
Die Akazienstraße hoch. Zu Aldi und danach zu Reichelt. Wenn jetzt nicht irgendwas passiert, werde ich heute noch mal über die Tess schreiben. Wie fange ich an? Beim Betreten der Kaiser-Wilhelm Passage habe ich es: Schlechte Woche, um mit dem Rauchen aufzuhören. Schlechter Tag, um damit aufzuhören an die Tess zu denken. Außerdem kann ich mir das nicht durchgehen lassen, dass ich am Donnerstag was ankündige und dann gestern schreibe, ätsch, das kommt jetzt aber nicht – das kommt erst demnächst mal. Das kann nämlich noch eine ganze Weile dauern, bis der kommt, der Text über die Geschichte der Tess von der Tess aus gesehen, weil ich da auch was Neues ausprobieren will, und wenn das nicht klappt, kommt er vielleicht gar nicht. Deshalb schreibe ich das Angekündigte heute; ich muss ja nicht so in die Einzelheiten gehen wie in dem angefangenen Text von gestern. – Mittlerweile stehe ich an der Kasse bei Aldi. Die Frau vor mir nimmt einen der roten Warentrenner in die Hand und mit weit ausholender Armbewegung haut sie ihn auf das Warenförderband - mit einer solchen Wucht, dass ich zusammenzucke bei dem Schlag, den es tut, obwohl ich ihn habe kommen sehen. – Da ich mit zunehmendem Alter immer leutseliger werde und ich das noch nie erlebt habe, dass jemand so aus sich heraus geht mit einem Warentrenner, sage ich erstaunt: Das war jetzt aber energisch. - Worauf sie erwidert: Halt´s Maul! und sich von mir abwendet. – Oh là, là, sage ich entgeistert.Worauf sie nichts mehr sagt und ich registriere, wie die Leute an der Kasse nebenan sich bedeutungsvolle Blicke zuwerfen wegen des Auftritts der Frau. Der Frau vor mir. Rückenansicht der Frau: Gedrungene Gestalt. Schwarze Haare; zu schwarz, um nicht gefärbt zu sein. Schwarzer Mantel; Kunstfaser. Sehr breite Schultern. Sehr breiter Hintern. Sehr kräftige Waden. Schwarze Strümpfe. Hellbraune Stiefel. Ist ein Look. Bob Frisur. Zum Haaransatz im Nacken hin zugespitzt geschnitten. Frisch geschnitten. Vielleicht ist sie heute beim Friseur gewesen. Halt´s Maul ist eine harte Ansprache. RTL-RTL2-Zuschauerin? Reality-TV? Casting-Shows? Dieter Bohlen? Ihr Einkauf der typische Einkauf von jemand, der sonst höherpreisig anderswo einkauft und bei Aldi zum Beispiel nur Olivenöl, ein ganzes Gebinde Milch und Süßwaren. Die Aggressivität von dicken Frauen, denke ich wieder mal und weiß zugleich, dass sich die Behauptung eines solchen Zusammenhangs nicht aufrechterhalten lässt, weil es auch aggressive dünne Frauen gibt, gerade genug. Inzwischen packt die dicke Frau vor mir ihre Einkäufe ein und steht mir dabei gegenüber. Sie ist Ende 30 und hat ein fleischiges Gesicht. Kein unsympathisches Gesicht. Sie bemerkt, dass ich sie ansehe. Sie erwidert meinen Blick. Wir schauen uns an. Mit verschlossenen Mienen. Sie schaut zuerst weg. Aber nicht gleich. Während ich meine Sachen einpacke und zahle, beobachte ich, dass sie am Ausgang des Supermarkts von einem kleinen Jungen erwartet wird, der sich beschwert, dass es so lange gedauert hat. Ein Mann ist auch dabei. Ihr Mann? Ihr Freund? Vater des Kindes? Die beiden verheiratet? Getrennt? Geschieden? Verbringen das Wochenende zusammen wegen des Jungen? Oder eine ganz normale Kleinfamilie? – Halt´s Maul! Ob sie mit ihrem Sohn auch so spricht in der Wohnküche? Der Junge macht nicht den Eindruck, als ob er eine schwere Kindheit hätte. – Nach Reichelt, beim Verlassen der Kaiser-Wilhelm-Passage überlege ich mir, was eigentlich so hart war an der Ansprache? Das mit dem Maulhalten oder das Duzen? Hätte ich mich weniger hart und vulgär angesprochen gefühlt, wenn sie gesagt hätte: Halten Sie Ihr Maul? – Wird das überhaupt gesagt? Halten Sie Ihr Maul? - Nein, das sagt man nicht. Oder? Ich muss daran denken, wie ich einmal zu einer mir vertrauten, aber mir nicht nahestehenden Frau Arschloch gesagt habe und gleich darauf gemerkt habe, dass das nicht geht. Dass das nicht vorgesehen ist im Sprachgebrauch, Arschloch zu sagen zu einer Frau. Aber was sagt man dann zu einer Frau in einer Situation, in der man zu einem Mann Arschloch sagen würde? – Andere Frage: Hätte ich zu der dicken Frau gerne Arschloch gesagt? – Nein. – Doch. Sonst würde ich jetzt nicht über den Wortgebrauch von Arschloch gegenüber Frauen nachdenken. - Aber ich bin doch nur darauf gekommen, weil ich über den Sprachgebrauch von Halt´s Maul nachgedacht habe. - Eben. Weil sie Halt´s Maul zu mir gesagt hat, hätte ich eigentlich gerne mit Arschloch geantwortet. Hätte ich es nur mal gemacht. Was dann los gewesen wäre! - Aber man sagt zu Frauen nun mal nicht Arschloch. Das ist nicht Sprachgebrauch.
Freitag, 22. Oktober 2010
Remote 2
remote = fern, entfernt, entlegen, weit weg, abseitig, abgelegen, abgeschieden; gering; unnahbar
Enttäuschung! Rückzieher! Geheimnistuerei! – Wer ist enttäuscht? Wer macht einen Rückzieher? Wer betreibt Geheimnistuerei? – Ich betreibe Geheimnistuerei. Weil ich gemerkt habe, dass ich das, was ich Stephanie erzählt habe, nicht so. wie ich es ihr erzählt habe, im Blog wiedergeben kann. Denn erstens ist es nicht mal halb so interessant, wenn ich all das weg lasse, was ich weglassen muss aus bürgerlichem Anstand gegenüber dem Professor und aus Rücksichtnahme gegenüber der Tess. Zweitens: Was gestern mit dem neugierigen Gesicht Stephanies vor mir so anregend war zu erzählen und in den Passagen, in denen es darum ging, den Professor durchzuhecheln, sogar amüsant, das hat mich heute vor dem gesichtslosen Bildschirm einfach nur runter gezogen, weil es ein Rückfall war in eine Geschichte, die zu Ende erzählt ist. - Enttäuschung also für die Leser. Aber nur heute. Der Text, den ich zu schreiben begonnen habe und den ich ursprünglich posten wollte unter dem Titel Remote 2, der kommt noch. Nur wird er ganz anders aussehen, als er heute ausgesehen hätte. Denn während ich ihn schrieb, ist etwas passiert, das mir erst im Nachhinein klar geworden ist: Zum ersten Mal habe ich die Geschichte mit der Tess von ihr aus gesehen. Das habe ich auch zuvor schon zu tun versucht. Es sind dabei auch keine neuen Aspekte sichtbar geworden. Ich habe nur plötzlich das Bild anders betrachtet. Keine große Überraschung. Nur ein anderer Blick. Und damit ein anderes Bild. Nicht mehr meine Geschichte. Die Geschichte der Tess. Die erzähle ich noch. Und das wird die Klarheit bringen, die es nicht geben konnte, solange ich immer nur aus meiner Perspektive erzählt habe, aus der Geschichte meines Begehrens. - Heute nur noch das: Warum der Titel Remote? – Remote Desktop ist eine Funktion von Windows. Wenn sie freigeschaltet ist, kann man damit von einem Rechner auf einen anderen zugreifen, um ihn einzusehen und auf ihm zu agieren als wäre es der eigene Rechner. Dazu müssen die Rechner miteinander verbunden sein entweder über Kabel oder über das Internet oder über Bluetooth. Ich habe Bluetooth nie benutzt. Daher wusste ich gar nicht, dass die Bluetooth-Funktion an meinen Rechnern aktiviert ist. Bis ich eines Tages darauf kam, dass ich ungebetene Gäste habe. Ein Gast war die Tess. Die war mir hoch willkommen und ihr Eingehacktsein bei mir über Bluetooth und Remote Desktop wurde sozusagen zur Infrastruktur für unsere Kommunikation. Die brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir werden entweder demnächst reden miteinander wie andere Menschen auch oder wir werden es nicht tun, weil die Tess es nicht will oder nicht kann, und unseren Kontakt abbrechen. So oder so gibt es keinen Grund mehr für das Eingehacktsein der Tess bei mir. Und deshalb überlege ich, die Bluetooth-Funktion an meinen beiden Laptops zu deaktivieren und Remote-Desktop abzuschalten. Wobei die Tess, wenn sie gut ausgerüstet und geschickt ist, und das ist sie, auch weiterhin in meine Rechner eindringen kann, wenn sie es darauf anlegt. (siehe Wikipedia Bluesnarfing). Mein Deaktivieren von Bluetooth ist dann nicht mehr als eine Geste, mit der ich ihr zu verstehen gebe, dass ich nicht mehr will, dass sie bei mir eingehackt ist und dass sie mir künftig auf die unter Menschen übliche Art begegnen oder es ganz lassen soll. - Außenstehende können nicht ahnen, was das bedeutet. Ich deaktiviere jetzt das Bluetooth, Tess.
Enttäuschung! Rückzieher! Geheimnistuerei! – Wer ist enttäuscht? Wer macht einen Rückzieher? Wer betreibt Geheimnistuerei? – Ich betreibe Geheimnistuerei. Weil ich gemerkt habe, dass ich das, was ich Stephanie erzählt habe, nicht so. wie ich es ihr erzählt habe, im Blog wiedergeben kann. Denn erstens ist es nicht mal halb so interessant, wenn ich all das weg lasse, was ich weglassen muss aus bürgerlichem Anstand gegenüber dem Professor und aus Rücksichtnahme gegenüber der Tess. Zweitens: Was gestern mit dem neugierigen Gesicht Stephanies vor mir so anregend war zu erzählen und in den Passagen, in denen es darum ging, den Professor durchzuhecheln, sogar amüsant, das hat mich heute vor dem gesichtslosen Bildschirm einfach nur runter gezogen, weil es ein Rückfall war in eine Geschichte, die zu Ende erzählt ist. - Enttäuschung also für die Leser. Aber nur heute. Der Text, den ich zu schreiben begonnen habe und den ich ursprünglich posten wollte unter dem Titel Remote 2, der kommt noch. Nur wird er ganz anders aussehen, als er heute ausgesehen hätte. Denn während ich ihn schrieb, ist etwas passiert, das mir erst im Nachhinein klar geworden ist: Zum ersten Mal habe ich die Geschichte mit der Tess von ihr aus gesehen. Das habe ich auch zuvor schon zu tun versucht. Es sind dabei auch keine neuen Aspekte sichtbar geworden. Ich habe nur plötzlich das Bild anders betrachtet. Keine große Überraschung. Nur ein anderer Blick. Und damit ein anderes Bild. Nicht mehr meine Geschichte. Die Geschichte der Tess. Die erzähle ich noch. Und das wird die Klarheit bringen, die es nicht geben konnte, solange ich immer nur aus meiner Perspektive erzählt habe, aus der Geschichte meines Begehrens. - Heute nur noch das: Warum der Titel Remote? – Remote Desktop ist eine Funktion von Windows. Wenn sie freigeschaltet ist, kann man damit von einem Rechner auf einen anderen zugreifen, um ihn einzusehen und auf ihm zu agieren als wäre es der eigene Rechner. Dazu müssen die Rechner miteinander verbunden sein entweder über Kabel oder über das Internet oder über Bluetooth. Ich habe Bluetooth nie benutzt. Daher wusste ich gar nicht, dass die Bluetooth-Funktion an meinen Rechnern aktiviert ist. Bis ich eines Tages darauf kam, dass ich ungebetene Gäste habe. Ein Gast war die Tess. Die war mir hoch willkommen und ihr Eingehacktsein bei mir über Bluetooth und Remote Desktop wurde sozusagen zur Infrastruktur für unsere Kommunikation. Die brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir werden entweder demnächst reden miteinander wie andere Menschen auch oder wir werden es nicht tun, weil die Tess es nicht will oder nicht kann, und unseren Kontakt abbrechen. So oder so gibt es keinen Grund mehr für das Eingehacktsein der Tess bei mir. Und deshalb überlege ich, die Bluetooth-Funktion an meinen beiden Laptops zu deaktivieren und Remote-Desktop abzuschalten. Wobei die Tess, wenn sie gut ausgerüstet und geschickt ist, und das ist sie, auch weiterhin in meine Rechner eindringen kann, wenn sie es darauf anlegt. (siehe Wikipedia Bluesnarfing). Mein Deaktivieren von Bluetooth ist dann nicht mehr als eine Geste, mit der ich ihr zu verstehen gebe, dass ich nicht mehr will, dass sie bei mir eingehackt ist und dass sie mir künftig auf die unter Menschen übliche Art begegnen oder es ganz lassen soll. - Außenstehende können nicht ahnen, was das bedeutet. Ich deaktiviere jetzt das Bluetooth, Tess.
Donnerstag, 21. Oktober 2010
Remote
Seelenmann. Aufwachen gestern Früh. Seelenmann? – Müsste es nicht heißen – singularisch – Seelemann? – Beim Schwimmen: Seelemann? Seelenmann? Heißt schließlich auch nicht souls man, sondern soul man: I´m a soul man. Aber Deutsch ist nicht Amerikanisch. Ach ja? Und mein Gefühl sagt mir: Seelenmann. Seelenklempner. Seelenmann. Ich lasse es so wie es da steht im Post von vorgestern. – Heute wieder so eine Unsicherheit. Wegen Nebendarsteller. Eigentlich muss es doch heißen Nebenfigur. Besser noch: Nebenrolle. Dass ich nur noch eine Nebenrolle spiele in meinem Leben. Hin- und Herüberlegen. Ich finde kein Kriterium für die Entscheidung. Gefühl sagt: Nebendarsteller. Gefühl kann täuschen. Gut wäre, wenn ich jemanden fragen könnte, wie es sich liest. Heute geht das ausnahmsweise mal. Stephanie ist in der Stadt. Um halb eins holt sie mich ab zum Mittagessen. Wir entscheiden uns für das Choice in der Akazienstraße. Pho Bo und Jasmintee mit Lychees und Gewürzen. Stephanie, die schon mal in Hongkong war, sagt, es ist der beste Jasmintee, den sie je getrunken hat. Und die asiatische Nudelsuppe mit dem frischen Koriander ist so gut wie immer im Choice. Nur leider ist Tui nicht da, und Hang, mit der ich Stephanie bekannt machen wollte, u.a. weil sie beide Jahrgang 68 sind (Hang Kriegskind aus Hanoi; Stephanie 68er-Eltern-Kind aus Freiburg), Hang verschwindet, ohne mich bemerkt zu haben. Seelenmann und Nebendarsteller sind vergessen und wir reden nun allen Ernstes eine halbe Stunde lang über den FC Bayern München, unter besonderer Berücksichtigung der Peinlichkeit des Mario Gomez einerseits und des Fußballintellektuellen Louis van Gaal andererseits. Das tun wir, weil Stephanies siebenjähriger Sohn Nikolaus Bayern-Fan ist und ich diese sinnlose Informiertheit habe über die Bayern, die nur noch übertroffen wird von meinem sinnlosen Fachwissen über Fußball überhaupt, mit dem ich nun aber eine wissbegierige Mutter coachen kann, um sie in die Lage zu versetzen, ihren Sohn damit zu beeindrucken. Ihren Sohn, der ein Bewunderer ist von Mario Gomez, weil er mit dem unschuldigen Blick eines Kindes darüber hinwegsieht, worüber ich nicht hinwegsehen kann; auch wennn es noch so selten vorkommt: wenn der Gomez sich bei seinem Torjubel das Trikot vom Leib reißt und eine gelbe Karte hinnimmt, um den Zuschauern seine im Kraftraum aufgepumpte Brust und Bauchmuskulatur hinzuhalten in einer Weise, dass man sich angesichts dessen am liebsten fett und wabbelig fressen möchte, um auch nicht nur entfernt so auszusehen wie der. - Nachdem wir uns energisch zu einem Themenwechsel entschlossen haben, reden wir immer noch nicht über Seelenmann und Nebendarsteller, weil jetzt hat Stephanie Fragen zur Tess. Sie ist nicht auf dem neuesten Stand. Sie ist gerade mal bis zu den Posts Anfang September vorgedrungen. Die zwei Kinder, der Mann, der Job. Das verstehe ich. Doch an ihren Fragen ist zu erkennen, sie nimmt Anteil an meiner Geschichte mit der Tess. Sie beklagt allerdings auch Unklarheiten. Da ist sie nicht die erste Leserin, die sich darüber beschwert. Ich verweise auf den Brief, den ich veröffentlicht habe in Das alte Biest. Kennt sie, hat sie gelesen. Trotzdem. Sie steigt immer noch nicht durch. Ist die Tess jetzt die Frau oder die Freundin oder die Lebensgefährtin des Professors? Und in welchem Verhältnis steht er zu Andrea Mulder? Und wie liest die Tess, was ich ihr schreibe, wenn ich ihren Namen nicht weiß, also auch keine Mail-Adresse habe von ihr. Habe ich doch nicht, oder? - Nein. Sie ist eingehackt bei mir. Ich schreibe ihr auf meinem Rechner und sie kann es lesen, weil sie alles mitkriegt, was ich auf meinem Rechner treibe. - Hm. - Damit sind wir an dem Punkt, über den ich am liebsten hinweggehe, weil das alles so unplausibel und wie von mir ausgedacht erscheint, und weil ich fürchte, mich damit vor meinen Lesern unmöglich zu machen. Bei Stephanie muss ich das nicht fürchten. Deshalb erkläre ich ihr, wie das funktioniert mit dem Eingehacktsein der Tess in meinen Rechner und erzähle ihr als Beweis dafür, dass ich mir das Eingehacktsein der Tess keineswegs nur einbilde, den Vorfall vom letzten Dienstag, bei dem die Tess so in das Schreiben des Blogs eingegriffen hat, dass selbst ich noch mal gestaunt habe. Außerdem erkläre ich ihr noch die Beziehungsverhältnisse in der Dachwohnung gegenüber und komme dabei auf die erste Enttäuschung zu sprechen, die mir die Tess schon in einer frühen Phase unserer Bekanntschaft bereitet hat. Das alles in der Fortsetzung morgen.
Mittwoch, 20. Oktober 2010
Nebendarsteller
Zweimal Telefon. Der eine Freund ruft mich an. Den anderen rufe ich an. - Der Freund, der mich anruft, meldet sich mit tränenerstickter Stimme. Entschuldige, dass ich so emotional bin, sagt er. Doch er weint nicht, weil es so weh tut, er selbst zu sein; das ist außerdem noch. Er weint aus Erleichterung und deshalb ruft er an, um mir das zu erzählen: Dass er endlich nach einem Vierteljahr Warten - Warten. bis seine private Krankenkasse der Kostenübernahme zugestimmt hat, und weiterem Warten, bis ein Bett frei wurde in der Klinik -, dass er endlich am Montag in die Klinik gehen darf zur psychosomatischen Therapie des – wie es so anschaulich wie möglich benennen? – völligen Zusammenbruchs seiner Persönlichkeit. Den Rest hat ihm gegeben diese immer verzweifeltere Warterei und dass er nicht arbeiten konnte, weil er krank geschrieben war die ganze Zeit, während er wartete. Und dass er dadurch konfrontiert wurde mit sich selbst auf eine so gruselige Art, dass er es inzwischen kaum mehr aushält sich selbst zu sein. Jetzt ist er ganz aufgeregt. Wegen all der Vorbereitungen, die er noch zu treffen hat, und wegen dem, was ihn in der Klinik erwartet: Was soll ich denen denn erzählen am Montag? – Die werden schon merken, was mit dir los ist, beruhige ich ihn. Du musst da einfach nur du selbst sein. Das schaffst du. – Den anderen Freund rufe ich an, weil er heute Geburtstag hat: Herzlichen Glückwunsch, Michael! 54. Schönes Alter. Und da du alles hast, was du brauchst, und das reichlich, was kann man dir da noch wünschen außer einem langen Leben bei bester Gesundheit. – Er bedankt sich und erzählt von den Büchern, die er von seiner Frau geschenkt bekommen hat. Claude Lanzmann, Der patagonische Hase. David Foster Wallace, Unendlicher Spaß: Infinite Jest. – Lanzmann, da weiß ich nicht, ob das sein muss. Aber Infinite Jest, da gratuliere ich ihm gleich noch mal zu diesem Geschenk. Infinite Jest habe ich dem anderen Freund übrigens empfohlen als Klinik-Lektüre. Und Michael erzähle ich dann noch von dem genialen Essay von Montaigne, genial auch deshalb, weil man den Essay gar nicht zu lesen braucht, man muss nur seinen Titel kennen, weil mit dem Titel schon alles gesagt ist: Philosophieren heißt Sterben lernen. Denn - das war der Kontext - noch so viel Gesundheit wird nicht verhindern können, dass auch das längste Leben einmal endet, und darauf sollte man sich rechtzeitig vorbereiten mit Weisheit, die ich dem Michael zum Schluss auch noch wünsche. - Danach ist es 11.30 Uhr und ich frage mich: Was mache ich jetzt? Nicht einfach nur so: was mache ich als nächstes? Sondern, was mache ich jetzt, nachdem das ganze Wollen, Wünschen und Begehren nicht geholfen hat? Was bleibt, nachdem ich den Seelenmann weggeschickt habe und ein paar Wochen zuvor schon den verkrachten TV-Autor? Damit sind die Hauptdarsteller aus meinem Leben verschwunden. Jetzt bin ich nur mehr ein Nebendarsteller in meinem Leben, denke ich. Der Satz gefällt mir. Aber sagt der denn auch was? Ich experimentiere mit dem Satz. Was hat der Nebendarsteller vorher gemacht? – Zugeschaut hat er, was die Hauptdarsteller getrieben haben, und dann hat er eines Tages angefangen, diesen Blog zu schreiben über das Treiben der beiden Hauptdarsteller. Jetzt sind die weg. Was bleibt? Ein sich zuspitzender Geldmangel und der Blog. Immerhin der Blog. In dem Blog veröffentliche ich mein Leben. Und in dem Blog richte ich mir jetzt mein Leben als Nebendarsteller ein, denke ich. Wieder so ein Satz: In dem Blog richte ich mir mein Leben ein. Wie soll das gehen? - Das Bild von Escher fällt mir ein, das mit den Händen, die sich selbst zeichnen. Oh je! - Komm! So schlimm wird es schon nicht werden.
Dienstag, 19. Oktober 2010
Seelenmann
Kein Abschied. Kein melodramatisches Ende. Keine letzten Worte. Eine Art Schamanismus. Auf jeden Fall eine Handlung. Keine Erzählung. Erster Text: Rascheln, eine Variante zum Post vom Samstag, Reden (bei dem bleibt es). Gefolgt von Rascheln 2 vom Sonntag – pedantische Beschreibung einer Verrücktheit. Die Hässlichkeit des Textes keine Kommentierung des Themas, Begleiterscheinung der schamanistischen Handlung. Drei Texte: Facebook 3, 4, 5 – Texte vom Frühjahr, aus der Facebook-Phase des Schreibens an die Tess. Zufällig gefunden beim Suchen nach etwas anderem. Darauf das Gefühl, dass die Texte da stehen sollten. An Tess 3: Das Schreiben an die Tess am Abend der geplatzten Verabredung: davor und die an sie geschriebenen Notizen danach. Verabredung 2: Annahmen, warum aus der Verabredung nichts wurde. Die wichtigsten Annahmen; Varianten sind denkbar, andere Annahmen möglich und Kombinationen der Annahmen. Zutreffend oder nicht, das weiß nur die Tess. Sie wird es mir eines Tages sagen oder ich werde es nie erfahren. – Der Seelenmann? - Plötzlich stand er da, der komische Begriff. Seelenmann. Bin ich gewesen. Ausgerechnet ich. Wegschicken des Seelenmannes. Ende der Handlung.
Montag, 18. Oktober 2010
Sonntagszeitung
Es geht mir nicht gut. Bis ich erfahre, dass es der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auch nicht gut geht. – Heute Früh auf FAZ.NET ein Artikel aus der FAS: Spionieren mit Facebook. - Facebooks Datensammelwut macht es möglich: Sogar Kontaktpersonen von Nichtmitgliedern lassen sich ermitteln - allein mit einer E-Mail-Adresse. Wie leicht das geht, zeigt ein Experiment der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. - Ein Experiment der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dann haben die sich also inspirieren lassen vom Account-Fake von TechCrunch und haben einen weiteren Dreh entdeckt, wie man über Facebook Leute ausspionieren kann. Doch oh nein! Sie haben nichts entdeckt. Sie haben die Aktion von TechCrunch einfach nur nachgestellt und das ein Experiment genannt. Immerhin erwähnen sie in dem Text, woher sie die Idee haben. Wie ich später auf Perlentaucher lese, erwähnen sie es allerdings nur in der Onlineversion des Artikels, in der Papierausgabe der FAS gab es diesen Hinweis nicht. Da haben sie den Eindruck eigener Schlauheit und Gewitztheit erweckt. Und warum in der Onlineversion nicht? - A) Zwischen Papierveröffentlichung und Onlineveröffentlichung haben sie herausgefunden, dass der Autor des Textes sich mit fremden Federn geschmückt hat. Das ist mit der Seriosität des Blattes nicht vereinbar. Deshalb wurde der Hinweis auf die Quelle TechCrunch eingerückt in die Onlineversion, und was sie mit dem Autor des Artikels gemacht haben oder noch machen werden, will ich mir lieber nicht vorstellen. B) Der Autor ist doch nicht blöd und riskiert wegen so etwas seinen guten Ruf. Er hat selbstverständlich auf die Quelle hingewiesen. Worauf jemand in der Redaktion gesagt hat, warum sollen wir unseren Papierlesern das auf die Nase binden, wie du darauf gekommen bist? Denen verkaufen wir das als exklusiv schlau und gewitzt von uns. Und den Onlinelesern, bei denen die Gefahr besteht, dass sie noch was anderes lesen als FAZ.NET, denen nennen wir unsere Quelle. C) Es kann aber auch so gewesen sein, dass die FAZ.NET-Leute das richtig gestellt haben, weil es ihnen peinlich war, was die FAS-Kollegen da getrieben haben: Erst ein Thema aufgreifen, das so alt ist wie die Zeitung von gestern, und dann auch noch die Quelle weglassen. Wer sind wird denn? – Ich hätte diesen Vorfall nicht erwähnt, wenn ich nicht gegen 14 Uhr in tiefes Brüten versunken wäre. Wegen meines Blogs und überhaupt. Wie weiter jetzt? Die Fortsetzungsgeschichte meiner unglücklichen Liebe zur Tess hat ihre schlimmst mögliche Wendung genommen. Jetzt kann ich in Das Alte Biest noch eine Weile dem Unglück hinterher schreiben und dann? Solche Schoten erzählen wie die vom Experiment der FAS? – Telefon! 14.05 Uhr und Telefon? Da will mir jemand was verkaufen. Frauenstimme. Singsangartig. Geschliffener Vortrag. Ich hätte doch mal die FAS abonniert gehabt. – Ja, vor Jahren. – Jetzt kann ich sie haben 12 Wochen lang zu einem Sonderpreis. – Sonderpreis enttäuscht mich, weil die Stimme war so angenehm, dass ich schon glaubte, ich kriege was umsonst. – Statt etwas über 40 Euro soll ich nur 28 Euro bezahlen für zwölf Ausgaben der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und kriege dazu ein Geschenk, das entweder ist ein Benzingutschein im Wert von 10 Euro oder ein Fleuropgutschein im Wert von 10 Euro. So dass ich nur 18 Euro zahlen würde für die zwölf Zeitungen. Allerdings auch nur, wenn ich jemandem Blumen schicke über Fleurop und dabei sicher drauf legen werde, denn ich glaube nicht, dass da viel für die Blumen übrig bleibt von den 10 Euro, da das Verschicken der Blumen schließlich auch was kostet. Und da ich kein Auto habe und nicht mal einen Motorroller, würde nun mal nur der Fleuropgutschein für mich in Frage kommen. – Da mir der Vortrag der Frau so gut gefallen hat, verschone ich sie mit meiner Spitzfindigkeit und sage, dass ich das Angebot gerne annehmen würde, ich aber leider in dieser Lebensphase keine Zeit habe, um die FAS zu lesen. Das ist eine freundliche und eine taktische Lüge, mit der ich sie nicht entmutigen und zugleich verhindern will, dass es zu einer Diskussion kommt. – Wir wünschen einander einen guten Tag und es geht mir auch schon viel besser nach diesem Gespräch. Weil es der FAS offenbar noch schlechter geht, als ich am Morgen dachte. Weil ich mein eigenes Geschäft habe, dem es zwar auch nicht gut geht, mit dem es aber im Gegensatz zu dem der FAS nur aufwärts gehen kann. Und weil ich ein schlechter Mensch bin. - Statt eines Benzin- oder Fleuropgutscheins hier ein Link zu einem Beitrag von The New Yorker zur Berichterstattung von FAZ und ZEIT über den Film Das soziale Netzwerk. Und hier der Artikel von Claudius Seidl (Feuilleton-Chef der FAS), um den es im New-Yorker geht. - Meine Lieblingsstelle im New-Yorker-Text: (Zitat Seidl, darauf der knappe Kommentar) “This is what I see when I go to Facebook: an egocentric universe in which a higher existence is absolutely not supplied.” As if it could be.
Sonntag, 17. Oktober 2010
Geschenk
Als ich mit Hediye zusammen war, bin ich stolz darauf gewesen, mit einer Frau zusammen zu sein, die eine Kriegerin ist. Stark gegen stark, so muss es sein, hatte sie einmal gesagt, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Streit ist kein Problem. Streit gehört dazu. Es war eine Lust, sich mit ihr zu streiten, weil ich mich nie schlecht fühlen musste dabei. Denn ich wusste, sie kann sich wehren. Und wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich doppelt zurück, was ich gegen sie austeile. Am Ende hat sie es mir so gegeben, dass ich lange brauchte, bis ich mich wieder aufgerappelt hatte. Und danach, als wir beste Freunde geworden sind, hat sie mir mal gestanden, dass Kriegerinnen auch manchmal schwach sind – und dass sie schon manchmal Tränen in den Augen hatte, wenn sie nach einem Streit mit mir nach Hause gegangen ist. Der Name Hediye ist Türkisch und bedeutet Geschenk. Die Leute, die Hediye kennen, sehen in ihr ein Geschenk oder sie sind neidisch auf sie. Der Neid hat schon bis in ihre Familie hinein gereicht. Hediye hat immer die besten und die schönsten Handys. Ihr aktuelles Handy ist aus Gold. Das hat ihr ihr deutscher Freund geschenkt. Mit dem plant sie zusammenzuziehen, wenn ihre Söhne aus dem Haus sind, und über Heiraten haben die beiden auch schon gesprochen. Hediye wohnt am Rand der Stadt in bester Gegend in einem eigenen Haus. Potsdam ist nicht weit entfernt. Dort fährt sie hin zum Einkaufen und es gefällt ihr da - alleine schon deshalb, weil es dort nicht so viele Ausländer gibt. Das hat sie mit ganz ernster Miene gesagt und danach hat sie sich schief gelacht über den Satz. Hediye ist stolze Türkin und stolz darauf, einen deutschen Pass zu haben. Sie schaut im Fernsehen türkische Serien. Wenn sie in Istanbul ist, wo sie eine Wohnung besitzt, genießt sie das familiäre Zusammenleben mit der Nachbarschaft und die menschliche Wärme, die sie hier oft vermisst. Und wenn sie zurück nach Berlin kommt, ist sie froh, endlich wieder zu Hause zu sein in ihrer Stadt und in ihrem Land. – Ich habe Hediye gestern getroffen, weil ich mit ihr über einen Artikel reden wollte, den ich am Vortag in der FAZ gelesen hatte. Es geht darin um Rassismus von in Deutschland lebenden Muslimen gegen Deutsche, muslimischer Jugendlicher gegen deutsche Jugendliche, muslimischer Prediger gegen westliche Kultur. Im Nachhinein weiß ich auch nicht mehr, was ich erwartet habe von dem Gespräch über den Artikel. Wahrscheinlich wollte ich nur Hediye endlich mal dem Blog vorstellen. Und es war sowieso höchste Zeit, dass wir uns wieder einmal getroffen haben, nachdem wir uns mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen hatten. Deshalb sprachen wir erst mal darüber, wie dünn ich geworden und über meine unerfüllte Liebe, von der sie meint, dass ich sie endlich aufgeben soll, und dann über ihre Liebe und über ihre Söhne, ihre Schwiegertochter und ihr Enkelkind, und erst ganz zum Schluss über den Artikel und über die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die alles tun, um ins Paradies zu kommen, und die auf jeden herabblicken, dem das verwehrt sein wird. Hediye ist Alevitin. Wobei ich zugeben muss, dass ich nie ganz verstanden habe, was das heißt. Lange Zeit habe ich gedacht, der Alevitismus sei so eine Art aufgeklärter Islam, aber das stimmt so auch nicht. Auf jeden Fall heißt es, nicht mehrmals täglich beten und kein Kopftuch. Allerdings, wenn Hediye in dem südostanatolischen Dorf ist, aus dem ihre Familie stammt, dann trägt sie ein Kopftuch. Die Welt ist kompliziert. Und Welt ist jetzt überall. Eine Tante Hediyes ist mit einem Kurden verheiratet und ihre Söhne leben in Spandau, sind strenggläubige Muslime und verachten Hediye und ihre Familie. Und zu dem Artikel der entrüsteten FAZ-Autorin kann Hediye nur sagen, dass es in der Türkei die gleichen Probleme mit den frommen Muslimen gibt. Allerdings größere Probleme als hier, weil dort ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung größer ist - und man nicht in Erwägung ziehen kann, sie des Landes zu verweisen, sondern gezwungen ist, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Sich mit ihnen zu streiten. Weil man zusammengehört, gleich wie groß die Gegensätze sind. Am Ende haben wir dann noch über den deutschen Rassismus gesprochen, von dem Hediye naturgemäß einiges zu erzählen weiß. Dem uneingestandenen Rassismus, dem verbreiteten, und dem institutionellen. Was ich nicht wusste: Als die Familie Hediyes Anfang der 70er Jahre nach Deutschland eingewandert ist, bekam jedes Familienmitglied einen Vermerk in den Pass, in welchen Teilen der Stadt sie wohnen durften und in welchen nicht. Das hat sich geändert mittlerweile. Aber das muss man schon wissen, dass das einmal so war, wenn man heute über gescheiterte Assimilation klagt, über Ghettobildung und über die Existenz von Parallelgesellschaften.
Samstag, 16. Oktober 2010
Reden
Weiß es ganz genau, dass ich einen Text geschrieben habe, in dem es u.a. darum geht, dass ich hinter mir ein Rascheln in den Blättern der Kletterpflanze am Geländer der Loggia höre und mich umdrehe und durch eine Lücke im Bewuchs den Nachbarn aus der Dachwohnung gegenüber bemerke, der zu mir her starrt und ein Gesicht macht, als hätte er gerade einem Außerirdischen zugesehen bei einer Aktivität. deren Zeuge er lieber nicht gewesen wäre. Aber warum hat er dann hergeguckt? - Und warum finde ich den verdammten Text nicht? Gleich, was ich in die Suchfunktion von Word eingebe: Kletterpflanze, Rascheln, Loggia, masturbieren, Gesicht, her starrt ... – kein einziger Treffer: Der Suchvorgang innerhalb des Dokuments ist abgeschlossen. Das gesuchte Element konnte nicht gefunden werden. – So bleibt mir nur, die Texte selbst zu durchsuchen, die ich an die Tess geschrieben habe im Zeitraum von? – April bis Juni. In dem Zeitraum muss es gewesen, dass ich ihr mal erzählt habe von der Begebenheit. Doch das schaffe ich nicht, das alles durchzulesen. Das ist mir zu mühsam. Und zu deprimierend. Zu sehen, wie es in den Texten immer nur um das Gleiche geht: Reden. Rede mit mir! Wann wirst Du endlich mit mir reden? Wie kann ich Dich dazu bringen, mit mir zu reden? Indem ich Dir noch mehr erzähle von mir? Was denn noch? Ich habe Dir doch schon so viel erzählt und immer noch hast Du kein Zutrauen zu mir gefasst. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, je mehr ich Dir von mir offenbare, desto mehr entfernst Du Dich von mir. – Hat sie aber nicht. Entfernt hat sie sich nicht. Sie ist immer da geblieben. In der gleichen Distanz. Auf der anderen Straßenseite. Hinter dem Fenster. Ihre Gestalt. Ihr Huschen. Ihr Sitzen am Tisch vor ihrem Laptop. Wenn sie mir zeigt, dass sie liest, was ich ihr schreibe. Und manchmal, wenn es ihr gefällt, was ich geschrieben habe, dann schaltet sie das Dachlukenlicht an, und wenn sie begeistert ist, das war sie schon lange nicht mehr, dann stellt sie zusätzlich noch das Licht im Zimmer auf gleißend. Das Dachlukenlicht setzt sie auch ein als Zeichen der Annäherung. Zeichen ihrer Präsenz. Ich bin da heute Abend. Schreib mir. - Wie auch gestern Abend wieder: Komm, schreib mir!. Hast du nicht gesagt, dass es immer nur zwei Tage dauert, bis du dich wieder eingekriegt hast? Die zwei Tage sind vergangen. Also ist jetzt alles wieder gut. Lass uns weiter machen. Wie bisher. – Nein, Tess! Nich weiter wie bisher. Reden! Ohne Reden geht es nicht mehr. Finde einen Weg, um mit mir zu reden! Ich kann ihn nicht finden. Du musst ihn finden. Ich habe alles getan. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun könnte. Und ich schreibe Dir auch nicht mehr. Es geht nicht mehr ohne Reden. Finde einen Weg!
Freitag, 15. Oktober 2010
Albertine
Ich bitte weiter um Geduld. So schnell geht das nicht, wie ich es selbst auch gerne hätte. Mich leer machen. Am besten, indem ich jetzt alles raushaue, was noch zu schreiben ist über die Tess und den Professor, und dann steht es da und ich bin es los. Klingt viel zu einfach. Doch bei mir funktioniert das manchmal: Wenn ich jemandem etwas erzählt habe oder es geschrieben habe hier, dann lässt es mich in Ruhe. Was vom Professor noch zu erzählen ist: die Jahre zurück liegende Voyeur-Szene (Voyeur er, als er mich beim Sex mit mir selbst beobachtet hat und mich hinterher anstarrte wie einen Außerirdischen) und die Streit-Szene des Professors mit der Tess (Oh yeah, I had my fun!) vom September vergangenen Jahres, beides dokumentiere ich mit dem, was ich der Tess mal darüber geschrieben habe; dokumentieren reicht. Und die zahlreichen Umstände der geplatzten Verabredung, die dokumentiere ich auch: indem ich die Notizen, die ich mir danach gemacht habe (übrigens auch geschrieben an die Tess) in Das Alte Biest stelle. – Doch dann finde ich die Stellen mit dem Professor nicht in den Dateien, in denen ich mein Schreiben an die Tess abgespeichert habe. Nur kurze Erwähnungen. Und Drumrumschreiben (Sex mit sich selbst … allemal besser, als die verbreitete Heuchelei zugibt.). Dann überlege ich, ob ich es lassen soll, das über den Professor. Und das mit den zahlreichen Umständen? Auch lassen? – Das geht nicht, dann kann ich den Blog auch gleich aufgeben oder mich verbreiten über das, was sowieso schon in den Zeitungen steht. Trotzdem: Es widerstrebt mir. Ich würde am liebsten darüber hinweg gehen. Nicht, weil ich keine gute Figur dabei mache. Dazu bin ich nicht unterwegs, um gut auszusehen. Ich möchte es nicht, weil ich zu faul dazu bin. Weil es so kompliziert ist, so schwierig darzustellen. Und ich hasse es. Weil es so unklar ist. Weil ich nichts genau weiß. Weil es so sein kann oder auch ganz anders. Weil es nur Annahmen gibt und die kann ich noch so penibel darlegen, trotzdem werde ich nie herausfinden, was wirklich war. – À la recherche du temps perdu. Vorgestern habe ich mir den Band 2 von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aus der Bibliothek geholt.
À l´ombre des jeunes filles en fleurs. Im Schatten junger Mädchenblüte, hat Eva Rechel-Mertens übersetzt in ihrer deutschen Fassung, die ich gelesen habe, als ich Anfang zwanzig war. In der neu bearbeiteten Übersetzung von Luzius Keller wurde dieser Titel beibehalten. Letztes Jahr habe ich begonnen, die Recherche in der neuen Übersetzung nochmal zu lesen. Eigentlich würde ich den zweiten Band am liebsten überspringen. Beim ersten Lesen fand ich ihn so langweilig, dass ich die Proust-Lektüre beinahe ganz aufgegeben hätte. Wie gut, dass ich durchgehalten habe; aus Bildungsbeflissenheit. Denn im dritten Band (Guermantes) ist es dann losgegangen wie noch bei keiner Lektüre zuvor, nicht mal bei Robinson Crusoe, den ich in meiner Kindheit so oft gelesen habe, dass das Buch schließlich nur noch aus losen Seiten bestand. Nach zwei Butterbroten und einer Zigarette lege ich mich auf die Couch, von der ich lange nicht wusste, dass man sie von der Dachwohnung gegenüber einsehen kann, und blättere im Band 2. Ich lese mich fest im Nachwort des Herausgebers und komme zu folgender Stelle. Dabei ist mir schon klar, dass das jetzt wie inszeniert erscheint. Wenn es jemand so vorkommt, ich kann es nicht ändern. Hier die Stelle: „ … Dennoch geht das Spiel von Vermutungen, Täuschungen und Enttäuschungen weiter. Albertine erscheint bald als ausschweifende Bacchantin, bald als störrisches Mädchen, bald als wohlerzogene junge Dame. Als sie einmal eine Nacht im Grand-Hotel verbringt und Marcel auf ihr Zimmer bittet, glaubt er, es handle sich um ein Stelldichein. Wie er sie aber küssen will, klingelt sie nach dem Personal. Die für Marcel vollkommene Unberechenbarkeit Albertines bildet die Keimzelle der Albertine-Teile der Recherche, das heißt von Die Gefangene und Die Entflohene, wo Proust die These, es sei unmöglich, jemanden, den man liebt, wirklich zu kennen, zu einer eigentlichen Allegorie des sich entziehenden Sinns ausbaut. Vorläufig aber, gleich nach dem Auftauchen der Schar von jungen Mädchen, stellt sich die Frage: „Wer ist Albertine?“ in weit bescheidenerer Form, nämlich: „Wer ist die kleine Simonet?“ Diesen Namen hat Marcel auf der Strandpromenade aufgeschnappt, und auf ihn fixiert sich sogleich seine Neugier. Im Hotel lässt er sich die neuesten Fremdenlisten bringen, wo tatsächlich der Name Simonet erscheint. Er überträgt den Namen auf das anziehendste der Mädchen, eine Radfahrerin mit schwarzer Polomütze. Später erfährt er von Elstir, der ihn auch mit ihr bekannt macht, sie heiße Albertine Simonet. Daß sich die Simonets im Gegensatz zu allen anderen Simonnets nur mit einem n schreiben, wird als eine Art von Snobismus erklärt. Wer jedoch genau hinsieht, erblickt im Namen der kleinen Simonet den Monets, des großen Impressionisten, und versteht ihn als Hinweis auf das in diesem Romanteil dominierende Thema der Malerei.“ - Letzteres nur, weil ich gerade so drin war im Abschreiben, und vielleicht auch als Hinweis darauf, dass mir so etwas wie das dominierende Thema der Malerei fehlt. Ich könnte jetzt die Literatur, Marcel Proust, zu einem dominierenden Thema machen. Zeit genug dazu werde ich haben, nachdem die Tess verschwunden ist aus meinem Leben (Die Entflohene heißt im Original Albertine disparue). Aber das ist auch riskant, denn es braucht extrem starke Abwehrkräfte, intensiv Proust zu lesen und dann nicht unwillkürlich in seinem eigenen Schreiben ihn zu imitieren. – Erster Satz von Im Schatten junger Mädchenblüte: Als davon die Rede war, daß Monsieur de Norpois ein erstes Mal bei uns dinieren sollte, und meine Mutter ihrem Bedauern darüber Ausdruck gegeben hatte, daß Professor Cottard auf Reisen sei und sie, was ihre Person betraf, den Verkehr mit Swann gänzlich abgebrochen hatte, denn der eine wie der andere hätten den ehemaligen Botschafter gewiß interessiert, hielt dem mein Vater entgegen, ein illustrer Gast, ein hervorragender Gelehrter wie Cottard sei bei einem Diner niemals fehl am Platz, Swann jedoch mit seiner Großtuerei und dieser gewissen Art, seine geringfügigsten Beziehungen vor aller Welt auszuposaunen, ein vulgärer Aufschneider, den der Marquis Norpois sicher, wie er sich gern ausdrückte, „geschwollen“ gefunden hätte.
À l´ombre des jeunes filles en fleurs. Im Schatten junger Mädchenblüte, hat Eva Rechel-Mertens übersetzt in ihrer deutschen Fassung, die ich gelesen habe, als ich Anfang zwanzig war. In der neu bearbeiteten Übersetzung von Luzius Keller wurde dieser Titel beibehalten. Letztes Jahr habe ich begonnen, die Recherche in der neuen Übersetzung nochmal zu lesen. Eigentlich würde ich den zweiten Band am liebsten überspringen. Beim ersten Lesen fand ich ihn so langweilig, dass ich die Proust-Lektüre beinahe ganz aufgegeben hätte. Wie gut, dass ich durchgehalten habe; aus Bildungsbeflissenheit. Denn im dritten Band (Guermantes) ist es dann losgegangen wie noch bei keiner Lektüre zuvor, nicht mal bei Robinson Crusoe, den ich in meiner Kindheit so oft gelesen habe, dass das Buch schließlich nur noch aus losen Seiten bestand. Nach zwei Butterbroten und einer Zigarette lege ich mich auf die Couch, von der ich lange nicht wusste, dass man sie von der Dachwohnung gegenüber einsehen kann, und blättere im Band 2. Ich lese mich fest im Nachwort des Herausgebers und komme zu folgender Stelle. Dabei ist mir schon klar, dass das jetzt wie inszeniert erscheint. Wenn es jemand so vorkommt, ich kann es nicht ändern. Hier die Stelle: „ … Dennoch geht das Spiel von Vermutungen, Täuschungen und Enttäuschungen weiter. Albertine erscheint bald als ausschweifende Bacchantin, bald als störrisches Mädchen, bald als wohlerzogene junge Dame. Als sie einmal eine Nacht im Grand-Hotel verbringt und Marcel auf ihr Zimmer bittet, glaubt er, es handle sich um ein Stelldichein. Wie er sie aber küssen will, klingelt sie nach dem Personal. Die für Marcel vollkommene Unberechenbarkeit Albertines bildet die Keimzelle der Albertine-Teile der Recherche, das heißt von Die Gefangene und Die Entflohene, wo Proust die These, es sei unmöglich, jemanden, den man liebt, wirklich zu kennen, zu einer eigentlichen Allegorie des sich entziehenden Sinns ausbaut. Vorläufig aber, gleich nach dem Auftauchen der Schar von jungen Mädchen, stellt sich die Frage: „Wer ist Albertine?“ in weit bescheidenerer Form, nämlich: „Wer ist die kleine Simonet?“ Diesen Namen hat Marcel auf der Strandpromenade aufgeschnappt, und auf ihn fixiert sich sogleich seine Neugier. Im Hotel lässt er sich die neuesten Fremdenlisten bringen, wo tatsächlich der Name Simonet erscheint. Er überträgt den Namen auf das anziehendste der Mädchen, eine Radfahrerin mit schwarzer Polomütze. Später erfährt er von Elstir, der ihn auch mit ihr bekannt macht, sie heiße Albertine Simonet. Daß sich die Simonets im Gegensatz zu allen anderen Simonnets nur mit einem n schreiben, wird als eine Art von Snobismus erklärt. Wer jedoch genau hinsieht, erblickt im Namen der kleinen Simonet den Monets, des großen Impressionisten, und versteht ihn als Hinweis auf das in diesem Romanteil dominierende Thema der Malerei.“ - Letzteres nur, weil ich gerade so drin war im Abschreiben, und vielleicht auch als Hinweis darauf, dass mir so etwas wie das dominierende Thema der Malerei fehlt. Ich könnte jetzt die Literatur, Marcel Proust, zu einem dominierenden Thema machen. Zeit genug dazu werde ich haben, nachdem die Tess verschwunden ist aus meinem Leben (Die Entflohene heißt im Original Albertine disparue). Aber das ist auch riskant, denn es braucht extrem starke Abwehrkräfte, intensiv Proust zu lesen und dann nicht unwillkürlich in seinem eigenen Schreiben ihn zu imitieren. – Erster Satz von Im Schatten junger Mädchenblüte: Als davon die Rede war, daß Monsieur de Norpois ein erstes Mal bei uns dinieren sollte, und meine Mutter ihrem Bedauern darüber Ausdruck gegeben hatte, daß Professor Cottard auf Reisen sei und sie, was ihre Person betraf, den Verkehr mit Swann gänzlich abgebrochen hatte, denn der eine wie der andere hätten den ehemaligen Botschafter gewiß interessiert, hielt dem mein Vater entgegen, ein illustrer Gast, ein hervorragender Gelehrter wie Cottard sei bei einem Diner niemals fehl am Platz, Swann jedoch mit seiner Großtuerei und dieser gewissen Art, seine geringfügigsten Beziehungen vor aller Welt auszuposaunen, ein vulgärer Aufschneider, den der Marquis Norpois sicher, wie er sich gern ausdrückte, „geschwollen“ gefunden hätte.
Donnerstag, 14. Oktober 2010
Couch
Bitte beachten! Wie sich in dem Text von gestern bei mir wieder einmal das frühkindliche Muster gute Mutter/ böse Mutter durchgesetzt hat. Ich will nicht mehr über dich schreiben, weil du schlecht zu mir warst. Ich will lieber über die einsame Frau mit den aufgemalten Augenbrauen schreiben, mit der ich mich so gut unterhalten konnte, obwohl ich sie gar nicht kenne. Während ich dich schon so lange kenne, aber geredet hast du wieder nicht mit mir. – So geht das. Und es ist trotzdem nicht verkehrt – mich von jetzt an lieber an Menschen zu halten, die mit mir reden. Denn das Geheimnis ist das Geheimnis ist das Geheimnis. Es bleibt das Geheimnis, auch wenn ich noch so viel darüber schreibe. Es wird dabei nur immer geheimnisvoller. Tatsächlich: Je länger die Geschichte mit der Tess dauert, desto weniger weiß ich über sie, desto vager und verwirrender wird mein Bild von ihr. Der Witz dabei, ein für mich typischer Kalauer: Über den Professor weiß ich inzwischen mehr als über die Tess. Das ist auch einer der Gründe, warum ich ihn nicht in Ruhe lasse und über ihn schreibe. Weil ich nur über ihn an die Realität der Tess rankomme. Weil der Professor konkrete Anhaltspunkte bietet. Während es von der Tess nur gibt ihre Elfenauftritte, ihre unverständlichen, und meine hilflosen Interpretationen …. . – Der Text ging hier noch ein Stück so weiter. Mit der Vermutung, dass die Tess und ich uns sehr ähnlich sind und dass sie auch nach dem Gute-Mutter/böse-Mutter-Muster agiert. Ich lasse das weg und bitte um Geduld. Die Blog-Situation ist gerade sehr schwierig. Ich schreibe hier über mein Leben. Dabei folge ich meinem Bewusstseinsstrom. Das geht im Moment nicht. Denn der Bewusstseinsstrom ist so, dass ich nicht aufhören kann, mich mit den zahlreichen Umständen der geplatzten Verabredung zu beschäftigen, und das will ich nicht. Aus einem Grund, den ich (vorläufig) verheimliche. Und: weil es zu nichts führt. Auf keinen Fall führt es dazu, dass die Tess mit mir redet. Das wird sie eines Tages tun oder sie wird es nie tun. Darauf habe ich keinen Einfluss. So kann ich nur darüber schreiben, dass ich schon den ganzen Tag versuche, meinen Bewusstseinsstrom in eine andere Richtung zu lenken. Zeitweise gelingt mir das. Insgesamt gelingt es mir nicht. Das ist es, was ich heute gemacht habe. Während ich Schwimmen war. Während ich ein Zwischenergebnis für die Auftraggeberin des Brasilien-Jobs zusammengestellt habe. Während ich in meiner Mittagspause in ein Buch reingelesen habe, das ich mir gestern aus der Bibliothek mitgenommen habe und das nach fünf Seiten mich so in meinen Vorurteilen gegenüber aktueller deutscher Literatur bestätigt hat, dass ich Titel und Autorennamen lieber weg lasse. Nur das: Auf der zweiten Seite der Erzählung ist es so, dass ein Mann schaute zu einem anderen Mann und in seinen Augen mischten sich Kummer und ein freundlicher Spott. – Geht das? Kummer und freundlicher Spott mischen sich. In den Augen. Und wenn, muss es denn in den Augen sein? Wäre doch alleine schon eine Leistung, das im Gesichtsausdruck hinzukriegen. Im Haus nebenan hat lange ein Schauspieler gewohnt. Thorsten. Schade, dass der nicht mehr da ist. Sonst hätte ich den angerufen und ihn gefragt, ob er das hinkriegt und es mir zeigen kann. Ich habe es auch selbst schon versucht. Kummer kriege ich hin. Freundlichen Spott auch. Aber beides zusammen. Da habe ich das Gefühl, ich kriege gleich einen Krampf ins Gesicht, wenn ich damit weitermache. Vielleicht habe ich es noch nicht genug versucht. Vielleicht sollte ich da mal dran bleiben und mich damit ablenken. Das oder etwas anderes, irgendetwas muss ich mir einfallen lassen, um mich leer zu machen. Das - sich leer machen - ist übrigens eine Technik von Schauspielern, die sie anwenden, bevor sie eine neue Rolle erarbeiten. - Später: Ich habe es geschafft. Das geht mit der Mischung von Kummer und freundlichem Spott. Aber nur unter Zuhilfenahme des ganzen Gesichts. Mit den Augen allein geht es nicht.
Mittwoch, 13. Oktober 2010
Verabredung
Heute muss ich mich zwingen. Und wenn schon, dann möchte ich viel lieber über die alte Dame mit den aufgemalten Augenbrauen schreiben, die ich heute Nachmittag in der Konditorei getroffen habe: Sie kauft sich eine halbe Kranzstange. Ich sage: Da kann ich ja froh sein, dass Sie nicht die ganze genommen haben und mir noch ein Stück übrig lassen. – Man denkt eben mit, erwidert sie, ohne eine Miene zu verziehen und erklärt darauf, dass sie jetzt wartet, bis ihr Zucker weit genug unten ist und sie ein Stück von der Kranzstange essen kann. Sie ist nämlich Diabetikerin. Was übrig bleibt von der Kranzstange wird sie einfrieren. - Ich hatte eigentlich angenommen, dass Sie jetzt gleich mit der halben Kranzstange zum Kaffeeklatsch mit Ihren Freundinnen gehen. – Nein, antwortet sie, das werde ich nicht tun. Ich habe niemanden, sagt sie. Ohne Wehleidigkeit. So wie es ist. - Dann noch das von gestern Abend: Geglaubt, dass ich eine Verabredung mit der Tess habe. Es konnte gar keinen Zweifel daran geben, dass sie mir gezeigt hatte, sie will ausgehen. Und da sie es mir gezeigt hatte, konnte es keinen Zweifel daran geben, sie will mit mir ausgehen. Nun wollte ich eigentlich noch den zweiten Teil meines Posts überarbeiten. Außerdem wäre ich gerne früh ins Bett gegangen, um früh aufzustehen und schwimmen gehen zu können. Aber hey! Wenn die Tess mich treffen will! - Um es nicht unnötig spannend zu machen: Ich habe dann etwa eine Viertelstunde vor der Haustür der Tess gestanden und vergeblich auf sie gewartet und dann noch weitere fünf Minuten vor meiner Haustür damit zugebracht, abwechselnd zu ihrem mittlerweile dunklen Fenster hoch zu blicken und die Haustür gegenüber anzustarren. Danach bin ich wieder hoch in meine Wohnung gegangen und habe mir Notizen gemacht über die zahlreichen Umstände der Verabredung und darüber, was ich alles getrieben, gesehen und gedacht habe, während ich vergeblich auf die Tess wartete. Auf die Notizen komme ich vielleicht mal zurück. Aber lieber nicht, weil es reicht, dass ich das erlebt habe, da muss ich mich nicht noch weiter damit beschäftigen. Das einzig Interessante während des Wartens vor der Haustür der Tess war die Entdeckung, dass der Professor und die Andrea Mulder (erfundener Name) jetzt auf eine verhaltensauffällige Art umfirmiert haben auf den beiden Namensschildern am Klingelbrett; das eine Namensschild für die Wohnung, das andere für das kleine Apartment auf der Etage. Doch da findet sich bestimmt mal ein geeigneterer Kontext, um das zu erzählen. – Und was Witziges ist auch passiert. Als ich zurück ging auf die andere Straßenseite, kam von links ein Mann mit drei Pizzakartons auf der Hand. Weil ich nichts anderes zu tun hatte, habe ich den Mann angeschaut. Als ich dann den Bürgersteig erreichte und er kurz vor mir war, machte er plötzlich einen raschen Schritt zur Seite von mir weg. Er wich vor mir zurück. – Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, habe ich zu ihm gesagt. Ich bin völlig harmlos. – Das sah aber gerade nicht so aus, antwortete er, immer noch atemlos vor Schreck. Ich muss also furchterregend ausgesehen haben in meiner Abgepisstheit, als ich auf ihn zu kam. - Es kann natürlich sein, dass die geplatzte Verabredung ein weiteres Beispiel für den eigenartigen Humor der Tess gewesen ist und dass sie vielleicht sogar von der Tess als ihr neuester Beitrag zum Blog gedacht war. Es war von Anfang an auch ihr Blog und sollte es auch nach der Umfirmierung weiter sein: ich bin das eine Biest, sie ist das andere. Aber … - ich will mich dazu heute nicht äußern. Ich schreibe zu dem Thema demnächst noch Rivale 3 und 4, auch wenn ich augenblicklich nicht das Gefühl habe, dass der Rivale noch einer ist. Und dann passiert vielleicht auch mal was anderes, als immer nur das Gleiche.
Dienstag, 12. Oktober 2010
Ein Autor des von einem Team geschriebenen Blogs TechCrunch hat einen gefälschten Facebook-Account für den Google-Chef Eric Schmidt eingerichtet. Dazu brauchte er nicht mehr als seine Mail-Adresse, die nicht schwer zu kriegen war. Ohne die Bestätigung der Account-Anmeldung abzuwarten, hat die Facebook-Maschine losgelegt und getan, was sie bei jedem neu angemeldeten Nutzer tut: in den Datenbeständen von The Social Network nachzuforschen, welche Facebook-Nutzer die Adresse des new kid in town in ihren hochgeladenen Adressbüchern haben, um sie daraufhin dem neuen Nutzer als friends vorzuschlagen. Bei einem echten Account eine tolle Sache, weil man so schnell in Facebook mit den Leuten zusammenkommt, die man ohnehin schon kennt (das ist ironisch gemeint). Und bei einem gefälschten Account ist es der Dreh, mit dem man innerhalb kürzester Zeit herausfinden kann, mit wem jemand im wirklichen Leben sozial vernetzt ist. – Schlau! Mit wem könnte ich das machen? habe ich sofort gedacht. Es ist mir niemand anderer eingefallen als die Tess, deren richtigen Namen ich nicht kenne, also auch nicht ihre Mail-Adresse, und der Professor, dessen Mail-Adresse ich mir beschaffen könnte, aber der hat schon einen Facebook-Account und in dessen öffentlich zugänglichem Teil habe ich schon gestöbert und gesehen, welche Facebook-Freunde er hat, und das hat mir auch ein bisschen was erzählt über ihn. Sprichwort, in diesem Kontext im außermoralischen Sinn zu verstehen: Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist. – Sicherste Methode, sich vor einem Account-Fake wie im Falle von Eric Schmidt zu schützen: sich selbst einen Account bei Facebook einrichten (wichtig: alle aktiven Mail-Adressen dazu verwenden). Und das tut auch überhaupt nicht weh. Niemand wird von Facebook gezwungen, die Datengeilheit von The Social Network zu befriedigen. Man kann einfach nur nein sagen, wenn der Facebook-Prozess einen auffordert, sein Mail-Adressbuch hochzuladen. Dann wird man zwar immer wieder aufgefordert, es doch nun endlich zu tun, damit Facebook einen mit den Leuten zusammenbringen kann, die man schon kennt, doch das kann man sanktionsfrei ignorieren. Facebook ist eine der schönsten Einrichtungen des modernen Lebens, wenn man kapiert hat, dass man selbst definieren kann, wie man es nutzt - und wenn man nicht gerade völlig zugedröhnt ist, wenn man seinen Account einrichtet und blind alle Voreinstellungen für sein Nutzerprofil übernimmt oder bedenkenlos allem zustimmt, was die Facebook-Maschine vorschlägt. Wieviel privacy man bei Facebook hat, bestimmt man selbst. Und das kann sehr viel sein. Ich zum Beispiel habe bei Facebook ein Versteck gehabt, in dem ich monatelang heimlich mit der Tess kommuniziert habe. Blöd war dann nur, dass irgendwann meine Zugangsdaten Außenstehenden bekannt wurden. Wofür The Social Network allerdings nichts konnte. Bekannt geworden waren meine Zugangsdaten über stinknormales Hacken meines Rechners. So blöd war das dann aber auch wieder nicht. Denn nachdem ich über den ersten Schock hinweg war, dachte ich mir, wenn ich so interessant bin für die Leute, dass sie sich schon bei mir einhacken, dann können sie gerne mehr haben. Dann gebe ich ihnen jetzt die Breitseite. Das war einer der Gründe dafür, diesen Blog zu schreiben. Und Facebook danke ich für das sehr angenehme, geschmackvoll eingerichtete Ambiente, das es der Tess und mir als Versteck zur Verfügung gestellt hat, und für den äußerst großzügig bemessenen Speicherplatz. - Da ich glaubte, am Abend eine Verabredung zu haben, reichte die Zeit nicht mehr, um die Fortsetzung dieses Textes zu überarbeiten und hier reinzustellen. Die Fortsetzung steht jetzt in Das alte Biest.
Montag, 11. Oktober 2010
Versteckt
Immer wieder der gleiche Fehler: Mit Gedanken weiter kommen wollen. Fehler hinter dem Fehler: Souverän sein wollen. Für wen? Wozu? - Textentwurf von heute Nachmittag:
Die einfachste Art, die Tess zu retten, ist: Wenn ich den Vorfall vom Samstag verdränge. Ich beschäftige mich nicht mehr mit dem Gedankenzug. Ich vergesse den Gedankenzug. Und wenn der Zug nicht mehr fährt, dann sitzt sie auch nicht mehr drin. Dann geht sie nicht vielleicht doch in einem Moment der Unachtsamkeit an einer Zugtür vorbei und ich kann nicht die Tür aufreißen und sie rausstoßen. Das alles ist nicht. Es war sowieso nur ein Traum. Texttraum. Und es ist ohnehin nicht eine Phantasie gewesen über die reale Tess, sondern eine Phantasie über meine Vorstellung von ihr. Über das Bild, was ich mir von ihr mache. Es geht also nichts verloren. Nur der Impuls, der zu der Phantasie führte, der ist dann erstmal wieder unterdrückt. Verschwunden ist er damit nicht. Er wird wieder kommen. Wieder unterdrückt werden. Und immer wieder die Frage: Was hänge ich eigentlich so an einer für mich so enttäuschenden Liebe zu einem Bild von einer Frau? Zu dem Eindruck, den sie auf mich gemacht hat. Dem Eindruck, dem ich den Namen Contessa gegeben habe, abgekürzt Tess ... . - An dieser Stelle unterbrochen vom Anruf eines Freundes. Er kann es selbst nicht fassen, wie schlecht es ihm geht. Ich biete ihm Hilfe an. Ihn abholen, ihn begleiten zu einer Adresse, die aufzusuchen Überwindung kostet. Erst recht, wenn man seit zehn Tagen das Haus nicht mehr verlassen hat, weil man sich nicht mehr raustraut auf die Straße. Mehr nicht über das Telefongespräch. Hinterher überlegt, dass er vielleicht denkt, dass ich nur deshalb ihm helfen, ihn begleiten will, um darüber schreiben zu können. Indem ich jetzt nicht mehr preisgebe von dem Gespräch, zeige ich ihm, dass er auf die gleiche Diskretion vertrauen kann, wenn er mein Hilfsangebot annimmt und sich von mir begleiten lässt. - Nach dem Telefonieren nicht weiter geschrieben. Warum erzähle ich nicht, was passiert, statt mich zu verstecken in Gedanken und Phantasien? - Was am Wochenende passiert ist, dokumentiert hier: An Tess 1 und An Tess 2.
Sonntag, 10. Oktober 2010
Aufdringlich
Wie kriege ich die Tess wieder heil raus aus dem Zug? Wie ist sie da überhaupt reingekommen? Und wer ist der Mörder? Alain Delon ist es bestimmt nicht, denn das war nur eine Assoziation? Und der Kerl aus dem Gide-Roman ist es auch nicht; das war nur die zweite Assoziation, mit der ich mir ausgemalt habe das Ende der Tess. Ausgemalt aus der Eingebung eines Moments heraus. Genau genommen zwei Momenten. - Rückweg vom Einkaufen über den Rummel auf der Akazienstraße. Kürbisfest. Straße voll mit Menschen, vorwiegend jüngeren Menschen, und jeder Zweite hat was zu essen auf der Hand. Was ist das nur für eine Lust am Angekokelten, Verbruzzelten, Heiß-fettigen, Klebrigen? Und wo sind eigentlich die alten Menschen? Sitzen die alle zu Hause vor ihren extrabreiten Plasmabildschirmen und sehen sich öffentlich-rechtliches Fernsehen an, für das bald alle Zwangsgebühren zahlen müssen, damit die alten Menschen sich das ansehen können? Kann natürlich auch sein, dass den alten Menschen das Angekokelte etc. nicht bekommt oder dass ihre Altersweisheit sie bewahrt vor der seltsamen Lust daran und sie sich lieber ihr Geld sparen zum Beispiel für eine Kreuzfahrt in die Arktis oder die Antarktis. Reiseziele, bei denen selbst ich einen träumerischen Blick bekomme. Wie geschehen, als ich die Post von Hapag-Lloyd geöffnet habe mit der aufwändigen Broschüre über Kreuzfahrten mit den eistauglichen Schiffen Hanseatic und Bremen. - Wie kommen die denn auf mich, habe ich mich gefragt. Und wenn sie schon meine Adresse haben, warum wissen die dann nicht, dass ich nur verreise, wenn ich an einem entfernten Ort etwas zu tun habe, und nicht einfach nur, um weg und unterwegs zu sein? Doch dann hat die Broschüre mir so gut gefallen, dass ich nur noch überlegt habe, ob ich lieber zu den Eisbären an den Nordpol will oder lieber an den Südpol zu den Pinguinen. Um es nicht unnötig spannend zu machen: Ich habe mich für den Südpol entschieden, was aber keine Entscheidung für die Pinguine und gegen die Eisbären ist. Die einen sind mir so lieb wie die anderen und bei Eisbären ist es sogar so, dass ich jedesmal komplizenhaft grinse, wenn ich einen sehe, weil ich dann daran denken muss, was sie mit dem aufdringlichen Reinhold Messner gemacht haben. Der wollte einmal mit einem anderen Touristen zusammen die Arktis durchwandern. Völlig grundlos. Nur, um hinterher davon erzählen und damit angeben zu können. Aus dem gleichen Motiv also, aus dem er sich zuvor schon mal ohne Sauerstoffgerät auf den Mount Everest gestellt hat. Doch während ihn im Himalaya niemand aufhalten konnte, weil es entweder keine Yetis gibt oder sie zu menschenscheu sind, haben sich in der Arktis mehrere Eisbären zusammengetan, sich an seine Fersen geheftet und dabei sind sie ihm so bedrohlich nahe gekommen, dass er sich gesagt hat, was will ich hier eigentlich, der Nordpol ist doch schon entdeckt (1909), und seine Wanderung abgebrochen hat. Wobei Reinhold Messner zugute zu halten ist: Hätte er nicht versucht, die Arktis zu durchwandern, hätten ihn die Eisbären nicht vertreiben können und es würde diese wunderbare Geschichte nicht geben. – Das alles hätte ich gestern noch ausgemalt und wäre dann noch auf die schöne Broschüre eingegangen, die Preise der Kreuzfahrten und auch auf die Frage: Nimmt man sich eine Kabine mit Butler-Service und wäre es nicht herrlich, wenn Pinguine als Butler im Einsatz wären? Doch spätestens mit dieser Frage wäre es albern geworden und überhaupt, habe ich mir dann überlegt, ist nicht das ganze Thema albern? Schon was über mein Leben, denn ich habe fast eine halbe Stunde lang dagesessen und in der Broschüre rumgeblättert und -gelesen. Aber gibt es heute nichts Wichtigeres zu schreiben, habe ich mich gefragt. In dem Moment ist mir Katrin entgegen gekommen. Katrin, die ich kenne, seit sie 17 ist. Kennengelernt als die jüngere von zwei Töchtern einer Frau, mit der ich einmal kurz liiert war, nachdem der Sohn der Frau uns beide miteinander verkuppelt hatte. Inzwischen ist Katrin 26, studiert und arbeitet als Teilzeit-Nanny bei einer Familie in meiner Nachbarschaft. Sie war mit zwei Kindern auf dem Weg zum Spielplatz. Wir redeten daher nur kurz miteinander, um den Jungen und sein Geschwisterchen im Kinderwagen nicht zu langweilen. Im wesentlichen ging es in dem Gespräch darum, dass Katrin immer mehr Gesicht kriegt. Und als wir uns verabschiedeten, sagte ich: Du gefällst mir. Im Weitergehen habe ich dann gemerkt, was für eine aufdringliche Bemerkung das von mir war. Auf jeden Fall war es eine unangemessene Bemerkung. Für die Empfindung, die ich zum Ausdruck bringen wollte, wäre angemessen gewesen zum Beispiel die Formulierung: Du bist schön anzusehen - aber nicht das schon sehr intentionale Du gefällst mir. Deshalb habe ich mir vorgenommen, ihr das beim nächsten mal zu sagen, dass ich es so gemeint habe und nichts anderes im Sinn hatte dabei. Und dabei war ich mir sicher, dass sie das verstehen würde und darüber lachen, offen, unverkrampft wie sie ist und schlagfertig außerdem noch. Das habe ich mir vorgestellt, als ich meine Einkäufe ausgepackt habe in der Küche, und das Leben war so leicht und so unkompliziert und so selbstverständlich wie schon den ganzen Tag und die zwei Tage davor. Da musste ich auf einmal an die Tess denken und das war der Moment, in dem ich mich fragte, ob meine gute Stimmung etwas weiß, das ich noch nicht weiß, und ob das, was sie weiß, etwas zu tun haben könnte mit dem Traum von vorgestern oder mit dem Gedankenzug, der sich in Bewegung gesetzt hatte am Abend zuvor. Um es herauszufinden, habe ich Traumdeutung 2 geschrieben. Das hat dann dazu geführt, dass ich ein Mördergesicht gesehen habe und es mit der Angst zu tun kriegte. Vor mir. - Fortsetzung folgt.
Samstag, 9. Oktober 2010
Traumdeutung 2
Wo kommt auf einmal die gute Stimmung her? Weiß die Stimmung mehr als ich? – Ist das immer noch die Nachwirkung der Erleichterung, verspürt nach dem Aufwachen aus dem Traum von vorgestern? Ist da mehr passiert, als dass ein Zustand der Beklemmung aufgehört hat? Verweist der Traum auf die Zukunft? Deutet der Mord, um dessen Folgen es in dem Traum ging, auf einen anderen Mord hin? Einen geplanten Mord. Einen Mord, der gerade vorbereitet wird hinter den Kulissen meines Bewusstseins? Und ist der Gedankenzug zur Tat bereits abgefahren? Der Mörder sitzt auf einem Fensterplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung - sein bleiches Gesicht hinter der Scheibe. Nie war ein bleiches Mördergesicht schöner als das Gesicht des jungen Alain Delon in dem Film von Jean-Pierre Melville, der im Original Le Samourai heißt und in der deutschen Synchronfassung Der eiskalte Engel (1967). Ich lenke ab. Der ganze Text ist eine Ablenkung. Von? – Etwas, das ich mir nicht eingestehen will. Weil ich das jetzt überhaupt nicht brauchen kann. Alles soll so bleiben wie es ist; obwohl unerträglich, ich habe mich daran gewöhnt, ich habe mich darin eingerichtet und es ist besser als nichts. – Der Zug fährt. Der Mörder ist im Zug. Er ist unbewaffnet. Es wird nach der Tat keine Tatwaffe geben. Kein blutverkrusteter Dolch wird versteckt werden. Keine sexuelle Symbolik. Keine Defloration. Kein Sex. Denn Sex hat es in diesem Fall nie gegeben. Täter und Opfer kennen sich nicht einmal. Sie haben nie miteinander gesprochen. Und auch jetzt wird kein Wort zwischen ihnen gewechselt werden. Der Mörder wird eine Tür aufreißen und das Opfer aus dem durch die Nacht rasenden Zug stoßen. Nachtzug, der fährt von einem Ort in Spanien (Barcelona oder Madrid, daran kann ich mich nicht mehr erinnern) nach Marseille. Der Nachtzug fährt in einem Roman von André Gide, Les Caves du Vatican (1914). Kein Drama um Schuld und Verfolgung. Keine Reue des Mörders. Nicht einmal ein richtiges Motiv gibt es. Alles, was der Mörder zur Begründung, nicht Rechtfertigung, seiner Tat vorbringt, ist der Satz: Das Schwein war unglücklich. So habe ich den Satz in Erinnerung. Vielleicht sagt er auch nur: Er war unglücklich. Jahrzehnte zurückliegende Lektüre. Lektürerest. Tagesrest. Texttraum. - Gedankenzug ist ein Begriff, den Freud gelegentlich gebraucht. Der Gedankenzug hat sich gestern Abend in Bewegung gesetzt. Ausgelöst von einer zärtlichen Erinnerung. Wörter, die sie beschreiben. Ein Schlüsselwort ist kostbar. Das Wort hat Gedanken ausgelöst. Den Gedankenzug. Der Gedankenzug hat heute zur Vorstellung eines Textes geführt, den ich morgen schreiben wollte. Heute wollte ich schreiben einen Text mit dem Titel: Weltmeere. Über eine Broschüre von Hapag-Lloyd, die mir zugesandt wurde, um mich für Kreuzfahrten in die Arktis und die Antarktis zu interessieren. Vielleicht schreibe ich den Text ein andermal. Vielleicht schon morgen. Um Zeit zu gewinnen. Um den Zug zu stoppen, bevor es zu spät ist. Und bis dahin: Sei vorsichtig, Tess! Halte Dich von den Zugtüren fern!
Freitag, 8. Oktober 2010
Sponsoring
Gestern Abend Melanie wiedergesehen. Bei Michael in der Originalgröße. Vor zwei Tagen war sein Elektriker nach längerer Zeit mal wieder da. Sein Erstes, als er in die Wohnung kam: Wo ist das Mädchen mit dem Gewehr? – Michael führt ihn zu dem Foto. Elektriker stößt kleine spitze Schreie aus. Nein. Das würde er auch gerne haben und sei es nur so klein, hat er gesagt und mit den Händen ein Format von 25 x 25 cm angedeutet. – Das Foto hängt in einem Seitenraum der Diele. Da kommt es nicht richtig zur Wirkung. Warum hängst Du es nicht woanders hin, Michael? – Geht nicht. Zu irritierend das Foto für die Leute, die seine Frau Isabel in die Wohnung einlädt zu Gruppeninterviews für ihr Trendforschungsinstitut. – Da ich mich schon bei meinem ersten Besuch in Michaels neuer Wohnung wie zu Hause gefühlt habe, dringe ich ohne Vorwarnung ins Schlafzimmer ein. Auch hier die Wände vollgehängt mit großformatiger Kunst. Dann hängst du das Foto eben hier auf, rufe ich in Richtung Wohnzimmer und überlege bereits, welches Werk dafür weichen könnte. Vergiss es! ruft Michael zurück. Isabel hat was gegen Waffen! - Ja nun, murmele ich und merke in dem Moment, wie ausgehungert ich bin. - Michael lädt zum Abendessen ein. Ins Cantamaggio in der Alten Schönhauser. Weissbrot, Olivenöl und Salz. Dann Michael: Jakobsmuscheln; mit frischem Ziegenkäse gefüllte Ravioli; Seeteufel auf gedünstetem Gemüse, das aussieht wie mit Wasserfarben gemalt. Ich: Carpaccio vom Rind (ein Mal im Jahr ist das erlaubt) mit Pesto, Mezzelune mit Steinpilzen und Kaninchen-Rillettes; Kalbsleber mit grünen Bohnen und Kartoffelpüree. Dazu Rotwein, Wasser. Und währenddessen die Frage, wie ich meine Zukunft sehe, nachdem ich das Plotten in meinen Blog verlegt habe und der jetzt meine Hauptsache ist. Schwieriges Thema, weil mein Geschäftsmodell ist noch nicht zu Ende gedacht. Ziel ist, genug Leser zu kriegen, die mir folgen. Dann wechsle ich von Blogger auf eine eigene Domaine und finanziere mich mit selbst aquirierter Werbung. Denn die Google-Werbung ist zwar witzig (Im Schlaf abnehmen?), aber finanziell unergiebig. – Und bis dahin? – Brauche ich Sponsoren, die es mir ermöglichen, den Blog weiter zu entwickeln zu dem Fortsetzungs-Tatsachenroman, den ich daraus machen will - ganz auf meine Art, sich vergleichend mit nichts, das es bereits gibt. Wie ich Sponsoren finde weiß ich allerdings noch nicht. Michael brauche ich erst gar nicht zu fragen. Der liest meinen Blog nicht mal. Er hat dazu keine Zeit. – Keine 5 Minuten am Tag? Oder 35 Minuten in der Woche? Also wenn du einen Blog schreiben würdest, den würde ich lesen.Vielleicht nicht täglich, aber wenigstens ein Mal in der Woche, habe ich mal zu ihm gesagt. Es hat nichts genützt. – Da liegt es wohl weniger an der Zeit als daran, was er kurz darauf so formuliert: Warum sollen sich die Leute für deinen Blog interessieren, wenn du nur über dich und dein Leben schreibst? Und um zu verdeutlichen, wie er das meint, fügt er hinzu: Das kann doch jeder machen, so einen Blog schreiben über sein Leben. – Das stimmt, sage ich. Und ich kann das auch nur jedem empfehlen, das zu tun. Aber nicht jeder hat ein so dramatisches Leben wie ich: In Folge radikaler Ehrlichkeit mir selbst und anderen gegenüber vereinsamt und verarmt. Nicht gewillt, die Offenheit und Wahrhaftigkeit aufzugeben, die mich gesellschaftlich und geschäftlich ruiniert hat. Und trotz meines Alters immer noch fest entschlossen, reich und berühmt und mit der Contessa meines Herzens glücklich zu werden. – Das gefällt Michael nun wieder. Er applaudiert. Doch dann fragt er besorgt: Was machst du, wenn das nicht klappt? - Ich verliere mich erst in dunklen Andeutungen und muss schließlich zugeben, dass ich meinen Plan so weit noch nicht durchdacht habe und, wenn ich es mir recht überlege, ihn so weit auch gar nicht durchdenken will. Darauf stellt er mir Fragen zur Tess, die er sich alle leicht selbst beantworten könnte, wenn er meinen Blog läse. Wozu er sich aber nicht die Zeit nimmt, weil so einen Blog jeder schreiben kann. Wir bestellen Desserts. Der Schichtenbiskuit mit Beeren und Eis ist schon sehr konventionell. Die Birnentarte mit Mohneis hingegen ist so, dass es uns beiden leid tut, dass wir uns zum Teilen der Desserts verabredet haben. - Die Rechnung: 172 Euro. Michael legt seine goldene Kreditkarte in den kleinen Teller zu der Rechnung. Die Kellnerin verzieht ihr Gesicht zu einem bedauernden Lächeln. Keine Kreditkartenzahlung möglich im Moment. – EC-Karte? – Bedauerlicherweise auch keine EC-Kartenzahlung möglich im Moment. - Dieses Gezicke immer um die Kartenzahlung. - Unverständlich, weil die Abrechnung erfolgt innerhalb von zwei Tagen, meint Michael. Aber wahrscheinlich brauchen sie das Bargeld sofort, um ihr Personal auf die Hand bezahlen zu können. - Dann läuft der Laden wohl nicht so gut. - Das nun völlig unverständlich. Denn Essen, Wein und Bedienung sind so, dass ich am liebsten jeden Abend hierher kommen würde oder wenigstens ein Mal in der Woche.
Cantamaggio. Alte Schönhauser Str. 4 - Berlin Mitte. 030 283 18 95
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