Sonntag, 18. November 2012

Versöhnt




Die Frau trägt ein Baby vor dem Bauch. Schon den ganzen Nachmittag. Sie weiß auch nicht, warum sie das Kind nicht ihrem Mann mitgegeben hat, der schon mal vor, nach Hause gegangen ist. Dann könnte sie nämlich jetzt mal reingehen und einen Rundgang machen durch die offenen Ateliers. Wusste sie gar nicht, dass es hier Ateliers gibt. Aber das Kind ist ihr einfach zu schwer, nachdem sie es bereits stundenlang durch Charlottenburg geschleppt hat, kann sie es nicht auch noch durch die Ateliers schleppen, auch nicht wenn sie mit dem Fahrstuhl nach oben fährt (rechts) und nicht den Weg über die Treppe (links) wählt. Die im Erdgeschoss unbeleuchtete Treppe! Da wissen die seit Wochen, dass sie heute von 16 bis 22 Uhr einladen zu Offenen Ateliers und dann ist unten im Treppenhaus kein Licht. Aber das denke ich erst, als ich 45 Minuten später das Gebäude wieder verlasse, im Finstern tastend einen Schritt vor den anderen setzend und ich kriege den Geruch des Parfums von Nadja Engelbrecht nicht mehr aus der Nase, die ich umarmt habe zur Begrüßung. Besuch bei ihr in ihrem neuen Atelier in der obersten Etage der Grund, warum ich hier war. Anschließend schneller Streifzug durch die Etagen darunter. Etablierte Künstlerexistenzen. Saturiertheit. Den Lebensunterhalt zahlt die Rentenversicherungsanstalt oder ein Ehemann. Kunst, die niemand gesehen haben muss. Und dann ein kleines dünnes Mädchen, vorpubertär, angezogen wie eine Puppe, versunken in die Betrachtung eines der weniger albernen Bilder im Atelier von Ute Faber. So guckt das Mädchen nicht jedes Bild an. Das ist Kunstbetrachtung, was sie macht. Sie weiß, was sie sieht. Wird jetzt gerufen. In Begleitung ihrer Mutter oder ist es die ältere Frau, ihre Großmutter? Am Ausgang steht sie mir im Weg. Sie entschuldigt sich. Das ist übertrieben. Abgerichtet, das Kind? Dressiert? Oder einfach nur rücksichtsvoll? Egal. Der Ernst, mit dem das Kind das Bild betrachtet hat. Das versöhnt mich, wie schon sehr, sehr lange nichts mehr.