Du bist ein schöner Mensch, du siehst deutlich jünger aus als du bist, aber du hast kein Geld und keine Frau. So fasse ich nach 15 Minuten unser Gespräch zusammen und er widerspricht mir nicht. Eine Frau hat er nicht, weil er immer nach viel zu jungen Frauen guckt, sagt sein Kumpel, der neben ihm steht und mir beim Abschied formvollendet schöne Pfingsten wünschen wird, obwohl das Feiertagselend doch fast schon ausgestanden ist. Nur noch den Text über den schönen Mann auf der Carl-Zuckmayer-Brücke schreiben, Abendessen, den Text überarbeiten, früh schlafen gehen und dann ist gut bis Weihnachten. Der schöne Mann heißt Armin. Aus der Nähe sieht er noch viel besser aus als im Vorbeifahren. Er hat dunkle Haare, einen gepflegten grauen Dreitagebart und ein paar Falten in den Augenwinkeln. Doch auch die lassen nicht erahnen, dass er schon 62 ist. Das wäre mal ein Thema für eines unserer nächsten Gespräche: Wie er es geschafft hat, noch so gut dazustehen in diesem Alter. Wahrscheinlich günstige Gene, keine Zigaretten, wenig oder gar kein Alkohol und immer entspannt gewesen. Armin ist sehr entspannt. Nicht zufrieden ist er, aber entspannt. Selbst in dem Moment, als der Typ mit dem Motorroller über die Brücke fährt, die für motorisierte Verkehrsteilnehmer gesperrt ist, bleibt er ganz ruhig, murmelt nur, da ist ja schon wieder so eine Sau, greift zum Notizbuch, das neben ihm auf der Brüstung liegt, und geht ohne Hast die paar Schritte zur Brückenmitte, um das Nummernschild des Motorrollers erkennen zu können. 15.15 Uhr notiert er hinter dem Kennzeichen des Motorrollers. Und bei der Durchsicht der vorhergehenden Eintragungen stellt er fest.: das Arschloch ist gestern schon mal hier durchgefahren. – Da wäre ich gerne dabei, wenn er in den nächsten Tagen der Polizei seine Notizen übergibt. Was sagen die ihm dann? Dass er in jedem einzelnen Fall Strafanzeige erstatten muss? Oder wimmeln sie ihn ab? Spätestens dann, wenn er davon spricht, dass
die Arschlöcher uns vergasen auf der Brücke? Weil sie ihn dann für einen Sonderling und für durchgeknallt halten werden? Wie ich zuerst auch und schon dachte, da hast du sie, die Enttäuschung, mit der du gerechnet hast, und deshalb so lange gezögert, ihn anzusprechen, und es heute nur getan aus Verzweiflung, um nicht über dich schreiben zu müssen. – Sonderling ist er, aber durchgeknallt ist er nicht. Hartz IV-Empfänger mit der 58er Regelung. Kennste?
fragt er mich, fragt er häufiger beim Erzählen: Kennste?
Und sagt man nein, erklärt er es. 58er Regelung ist, dass sie einem nichts mehr vermitteln wollen, oder anders gesagt, einen in Ruhe lassen bis zu Rente, wenn man 58 Jahre alt ist. – Da würden sie mich auch in Ruhe lassen, schießt es mir durch den Kopf und dann denke ich: Bloß nie von denen in Ruhe gelassen werden, bloß nie so ein Amt von innen sehen, denn den Gleichmut, die Gelassenheit, mit der Armin das lebt, die hätte ich nicht. Da auf der Brücke zu stehen mit seiner großen
Schweppes Tonic Water-Flasche neben sich, aus der er immer mal wieder einen Schluck nimmt, um sich die Zunge zu befeuchten beim vielen Reden; aber Tonic Water ist da nicht drin, wenn ich das richtig sehe, dann ist das Leitungswasser, was er zu Hause in die Flasche gefüllt hat, bevor er losgegangen ist zur Brücke, wo er sein Gesellschaftsleben hat. – Was hast du gemacht vor Hartz IV? Beruflich, meine ich. – Ich habe Psychologie studiert, antwortet er. – Wie sich das anhört: 49 Semester Psychologie studiert und nach der Zwangsexmatrikulation arbeitslos gemeldet? – Bist Du Diplom-Psychologe? frage ich und dann tut es mir auch schon leid, dass ich ihn da reingetrieben habe mit meiner Frage, die er mit ja beantwortet, aber danach geht er schnell über zur Aufzählung von Jobs, die er gemacht hat: Arbeit mit verhaltensgestörten Kindern vorwiegend. Bei verschiedenen sozialen Einrichtungen. Bis kein Geld mehr da war, um Leute wie ihn zu bezahlen in ABM-Maßnahmen. Doch Diplom-Psychologie? – Jetzt arbeitet er – sicher unentgeltlich – bei einer Zeitung mit, die herausgegeben wird von einer sozialen Einrichtung für psychisch Kranke in Charlottenburg:
Platane 19 heißt die Einrichtung und die Zeitung heißt
Platanen-Blätter. Da macht er die grafische Gestaltung und das Layout (siehe Impressum). Letztes Heft war über Erfolg, nächste Nummer ist über Dummheit. Und danach wissen sie nicht, wie es weiter gehen soll. Denn ihnen gehen die Schreiberlinge aus und neue kommen nicht nach. - Schreibt er auch? - Nee, nee, ich bin Handwerker, sagt er. – Wieso ist er jetzt plötzlich Handwerker? frage ich mich. Weil er lieber Grafik und Layout macht, antworte ich mir und muss jetzt los, kriege schöne - oder waren es frohe? - Pfingsten gewünscht von Armins Kumpel und denke auf dem Nachhauseweg: Ach, das ist alles nicht lustig. Ich wünschte, Armin hätte ein besseres Leben. Mehr Geld und eine schöne Frau, die zu ihm passt. Oder eine schöne Frau mit Geld oder eine Frau ohne Geld und Geld ist ihr gleichgültig. Eine Frau, die ihn entdeckt und mitnimmt, damit er nicht mehr auf dieser Brücke stehen muss jeden Sonn- und Feiertag, wenn schönes Wetter ist.