Donnerstag, 30. September 2010
Stimme
Beim Einkaufen am frühen Abend vor mich hin gepfiffen. Am Kochhaus vorbei gekommen: Da ist ja richtig was los! Vergangenen Samstag standen sie Schlange an der Kasse. Funktioniert die Geschäftsidee also doch. - Vor dem Felsenkeller Bernd. Dass ich Lust habe, albern zu sein, sage ich zu ihm. Er will nicht mitmachen. Weiß aus seiner Erfahrung als Lehrer, dass bei Schülern Albernsein ein Zeichen von innerer Unausgeglichenheit ist; etwas arbeitet in einem, ohne dass man sich darüber im Klaren ist. Ich weiß, was in mir arbeitet. Unausgeglichen bin ich nicht. Unsicher bin ich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Gerade fühlt es sich gut an. Aber morgen? Wenn all die Einwände zurück kommen, die ich weggewischt habe mit: Dann ist das ist jetzt eben so. – Später der Tess geschrieben, was mir passiert ist beim Plotten, exakt um 12.07 Uhr. In dem Moment habe ich nämlich gerade auf die Uhranzeige der Windows-Taskleiste geguckt, als .. – es ist zu pathetisch. So pathetisch, dass ich später, als ich es posten will, das Ereignis des Tage, dass ich einfach nicht reinkomme in den Text. Entnervt aufgebe. Statt dessen Nektarine poste und währenddessen merke, dass es besser so ist, wenn ich die Entscheidung überschlafe. Und dann heute Morgen: Nichts mehr da von der Leichtigkeit, die ich gestern Abend empfunden habe. Die Leichtigkeit nach dem Hinschmeißen von etwas im Wissen, dass es richtig war, das getan zu haben. Diese Gewissheit allerdings immer noch da. Keine Einwände mehr gegen die Entscheidung. Vollendete Tatsache. - Da hätten Sie früher kommen müssen. Jetzt ist es zu spät. - Jetzt geht er nur noch darum, wie damit leben. – Gefühl wie nach einem Exzess. Wacklig. Shaky. Und immer noch keine Idee: Wie sage ich es meinem Blog? Und: Was sage ich der Produzentin? Was schreibe ich ihr? – Soll ich posten, wie ich mir überlege, was ich ihr schreibe? Das wäre doch die Handlungssituation, die mir gestern Abend gefehlt hat für den Text. Formulieren einer Mail an die Produzentin, in der ich ihr mitteile, dass ich die Plotentwicklung für sie aufgegeben habe. Weil? – Ich es einfach nicht geschafft habe, mich für Cindy zu interessieren und für ihre romantisch-komödiantische Liebesverwirrung. Dass ich deshalb ausprobiert habe, ihre ältere Schwester zur Hauptfigur zu machen. Dass das auch ganz lustig angefangen hat, mir dann jedoch gezeigt hat – ja was? – Wie das beschreiben, ohne zu erzählen, was um 12.07 passiert ist? – Dass da eine innere Stimme, meine innere Stimme, die ich schon sehr, sehr lange nicht mehr gehört habe, dass die gesagt hat: Hör auf damit. Lass es sein. Mach was anderes. – Dass ich erst nicht darauf hören wollte, es für eine vorübergehende Unlust, für Faulheit hielt, und deshalb weitergemacht habe. Und dass es auf einmal gewesen ist, als würde ich neben mir stehen und mir zuschauen, wie ich weitermache. Wie ich weiter schreibe über Cindy und ihre Schwester und den Konflikt der beiden um die Jugendliebe von Cindy, den liebenswerten Versager, der inzwischen der heimliche Geliebte der verheirateten Schwester ist. Und während ich das tue, wird mir klar, dass ich mich dem nicht werde entziehen können, was meine innere Stimme mir gesagt hat, und fange bereits an mir zu überlegen, was ich machen werde mit dem Plotten. wenn ich mir keine romantisch-komödiantischen Liebesverwirrungen mehr ausdenken werde zur Befriedigung der Wünsche, Träume und Sehnsüchte (WTS) bügelnder Zuschauerinnen. Das habe ich mir später notiert, was ich mir da gedacht habe. Nichts Großartiges. Letztlich Beschreibung von etwas, das hier im Blog schon angefangen hat. Ich werde es trotzdem für mich behalten. Und der Produzentin werde ich nur schreiben, dass es mit der Cindy nichts geworden ist. Aber weil mir die Gespräche mit ihr gefallen haben, würde ich mich freuen, wenn wir irgendwann mal bei einem anderen Projekt zusammenarbeiten könnten. Vorausgesetzt, dass es da nicht um Liebesverwirrungen zur Befriedigung der WTS bügelnder Zuschauerinnen geht. Das mache ich ab jetzt nicht mehr. Das hat mir der letzte Versuch gezeigt, dass ich das nicht mehr will. Und da danke ich ihr dafür, dass sie mir dabei geholfen hat, das herauszufinden. So schreibe ich ihr das. Und das Plotten, das ist ab jetzt hier im Blog. Plotten meines Lebens.
Mittwoch, 29. September 2010
Nektarine
Die Pfirsiche sind groß und nicht so hart. Doch vom letzten Kauf weiß ich, dass sie mehlig sind und nur wenig nach Pfirsich schmecken. Keine Kritik am Anbieter, dem türkischen Supermarkt in der Hauptstraße. Mit den Pfirsichen ist es einfach vorbei für dieses Jahr. Und die Nektarinen? Die Nektarinen sind klein und sehr hart. Dass sie klein sind, lässt vermuten, dass sie nach Nektarinen schmecken. Das übliche Betasten beginnt. Auf der Suche nach drei Früchten, die etwas weicher sind als die anderen. Sie sind alle gleich hart. Also zu Hause erst mal hinlegen, bis sie essbar sind, und für morgen eine Birne mitnehmen. Als ich eine Nektarine zurück lege, weil sie an einer Stelle angestoßen und bräunlich ist, kommt eine andere Frucht in der Auslage ins Rollen und fällt auf den Boden. Einen Fluch murmelnd bücke ich mich, hebe die Frucht auf und lege sie zurück. Nachdem ich zwei makellose Nektarinen ausgesucht habe, gebe ich sie in eine Papiertüte. Eine makellose Birne (Abate) finde ich mit einem Griff. Die Birne behalte ich in der Hand; sie muss extra gewogen werden, da das Kilo Birnen einen Euro mehr kostet als das Kilo Nektarinen. Der Mann an der Waage wickelt Wassermelonenstücke in Folie und schimpft vor sich hin. Ich kapiere gar nicht gleich, was er hat. Was auch daran liegt, dass er nicht mich, sondern das Stück Wassermelone ansieht, das er einwickelt, während er missbilligend den Kopf schüttelt und überhaupt nicht einverstanden ist mit etwas oder jemandem. Anscheinend mit mir, denn statt nun die Tüte zu nehmen, die ich ihm zum Wiegen hinhalte, schimpft er immer weiter und jetzt verstehe ich auch nach und nach weswegen. Ich fasse zusammen: Es ist nicht richtig, wenn mir eine Frucht herunter fällt, dass ich sie dann zurücklege zu den anderen Früchten. Richtig ist, die herunter gefallene Frucht ihm zu geben, damit er sie wegwerfen kann. Das sehe ich ein. Aber ich lasse mich nicht gerne tadeln und frage ihn mit aggressivem Unterton: Warum schaust du mich nicht an, wenn du mit mir redest? (Ich bin es gewohnt in türkischen Supermärkten geduzt zu werden und duze dort deshalb auch) - Er wiederholt seine Erklärung und fügt ihr hinzu, dass ich die herunter gefallene Nektarine nicht hätte bezahlen müssen, wenn ich sie ihm gebracht hätte. – Ich finde mich damit ab, dass er mich nicht anschaut und sage in Richtung seines abgewandten Gesichts: Ich habe einen Fehler gemacht. Ich entschuldige mich dafür. – Er geht an mir vorbei zur Auslage mit den Nektarinen und nimmt eine Frucht heraus. Kann das sein, dass er den Vorfall so scharf beobachtet hat, dass er die herunter gefallene Frucht mit einem Blick erkennt? - Er kommt zurück, wirft die Frucht in den Müll, schimpft weiter und nimmt mir einfach nicht die verdammte Tüte mit den zwei Nektarinen und die Birne ab, um sie zu wiegen. – Inzwischen habe ich mich ein zweites Mal entschuldigt. Ein drittes Mal werde ich mich nicht entschuldigen, erkläre ich ihm. Die Situation steckt fest. Objektiv. Aber so empfinde ich es nicht. Ich bin wie hypnotisiert. Ich könnte jetzt ewig so weiter machen und er sowieso. Da schaltet sich zu unser beider Glück die Frau an der Kasse ein, in deren Nähe sich die Szene abspielt. Es ist die Kassiererin mit dem dezenten Nasenpiercing, von der ich nur ein Mal einen deutschen Satz gehört habe, als sie zu jemandem sagte: Wir fasten. Sonst habe ich sie nur Türkisch reden hören. Jetzt stellt sich heraus, dass sie - im Unterschied zu ihrem Kollegen an der Waage - fließend Deutsch spricht. Und sie schaut mich an, während sie mit mir spricht. Sie geht darauf ein, dass ich mich entschuldigt habe, und wirbt zugleich um Verständnis für ihren Kollegen. Sie erklärt mir, dass eine Frucht, die zu Boden gefallen ist, an der angestoßenen Stelle fault, und wenn sie bei den anderen Früchten liegt, überträgt sie die Fäule. – Ja, klar. Weiß ich. Verstehe ich. Ich war achtlos. Ich habe einen Fehler gemacht. – Menschen machen Fehler, sagt sie und wiederholt, dass ich die runter gefallene Frucht nicht kaufen muss. Nur dem Kollegen geben, damit er sie entsorgt. - Ich sage: Mache ich das nächste Mal! - Inzwischen hat sich der Kollege beruhigt. Die Vermittlung der Kassiererin hat ihn besänftigt. Wortlos nimmt er mir die Tüte und die Birne ab. Er legt die Birne in die Tüte, wiegt sie zusammen mit den Nektarinen und sagt, ohne mich anzuschauen, aber betont versöhnlich: Gleicher Preis. – Ich bedanke mich für die großzügige Geste. – Er nickt. Klebt das Preisetikett an die Tüte und gibt sie mir. - Na wie wohl? - Ohne mich anzuschauen. – An der Kasse zahle ich 2, 09 Euro. Die Kassiererin sagt noch mal, dass Menschen Fehler machen, und ich sage: Jetzt haben wir das auch mal zusammen erlebt. - Hinterher frage ich mich, ob der Mann an der Waage mir deshalb nicht in die Augen geschaut hat, weil er denkt, dass ich unrein bin. In einem religiösen Sinn, meine ich. Aber das kann nicht sein. Dann hätte mir die Kassiererin auch nicht in die Augen geschaut.
Dienstag, 28. September 2010
Verzagt
Auf taz.de lese ich einen Artikel eines Schalke-Fans (wie kann man freiwillig, heißt: außerhalb Gelsenkirchens lebend Schalke-Fan sein?) und habe das Gefühl, ich lese eine Parodie meines Blogs, allerdings besser geschrieben als mein Blog. Es ist ein Artikel von Detlev Kuhlbrodt über das Internationale Literaturfestival Berlin. Der Bericht bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass es mit der Literatur, wie sie in Deutschland betrieben und gefördert wird, aus und vorbei ist, nachdem Rainald Goetz nur noch Fotos macht und Christian Kracht mit dem Trinken aufgehört hat und nach Argentinien ausgewandert ist. Unter dem Artikel der Hinweis: Eine längere Version dieses Textes steht im Blog November07 aufwww.taz.de. - Wie das? Der Artikel ist mir doch jetzt schon so lang vorgekommen wie einer meiner viel zu langen Posts. Setzt der Autor in seinem Blog noch einen drauf mit seiner Parodie meines Blogs? - Ich soll nicht immer alles auf mich beziehen. Manchmal ist das schwer. - Kein guter Tag. Weil ich heute nicht gemacht habe, was ich machen wollte. Dann doch nicht schwimmen gegangen bin. Dann doch nicht draußen war, um mir den Laden mit den Brautkleidern in der Goltzstraße anzugucken und vorher Oleg zu fragen, was er über den Laden weiß. Dann doch nicht den Text geschrieben habe, den ich schreiben wollte. Mit dem Eingeständnis: Wie lange genau ich keinen Sex mehr hatte mit einer anderen Person. Wie lange es keine nennenswerte Überweisung auf mein Konto mehr gegeben hat. Statt dessen habe ich geschrieben über eine Nektarine, die in einem türkischen Supermarkt auf den Boden gefallen ist, und welche Folgen das hatte. Den Text gibt es entweder morgen hier oder demnächst in Das alte Biest. - Mehr heute nicht.
Montag, 27. September 2010
Umzug
Süchtig 2, gestern geschrieben als Fortsetzung des Posts vom Samstag, steht in Das alte Biest. Dort hat auch begonnen die Ausstellung der Fotos von Peter L.: NACKTE WÄNDE in Kreuzberg. Weitere Posts mit Fotos von Peter - die dann ausgewählt von ihm selbst - werden folgen. Peter L., so hat er sich früher immer am Telefon gemeldet, wegen der Länge seines Nachnamens oder weil er ihn als zu pompös, als nicht typgerecht empfunden hat. Das hat sich dann im Freundeskreis durchgesetzt, ihn so zu nennen: der Peter L. oder einfach nur der L. - Mittlerweile meldet er sich nur noch mit einem unwilligen bis übellaunigen Ja? Das wird neuerdings immer leiser. Es geht ihm nicht gut. Es stimmt etwas nicht mit ihm. Vielleicht ist es ja ganz leicht zu beheben? - Wie immer hat der Außenstehende leicht reden. Auch wenn der Außenstehende ich bin und sich so viele Gedanken macht wie ich über alles und jeden. Was nicht nur liegt an meiner übergroßen Empathie, die habe ich außerdem noch (schlimm!), sondern auch liegt an der geringen Zahl meiner sozialen Kontakte. Da kann es leicht passieren, dass eine Formulierung in einer Mail mir tagelang nicht aus dem Kopf geht. Die Formulierung, die ich damit meine, ist aber auch wirklich merkwürdig. Ich hatte in meiner Mail geschrieben etwas Persönliches als Vorbemerkung und dann eine Frage gestellt. Der Adressat geht in seiner Antwort auf das Persönliche kurz ein, beantwortet meine Frage klar und vollständig und fügt dann - völlig unnötig, entgegen seiner sonstigen Art - hinzu nicht nur den üblichen Gruß, sondern schreibt: Dies in aller Kürze (bin ein bisserl im Stress) dafür aber umso herzlicher grüsst Dich ... . – Ungewöhnlich; oder spinne ich? Wenn er so in Eile ist, warum macht er sich die Umstände und schreibt das noch hin? Er hat doch alles gesagt? Er muss nur noch schreiben Herzlichen Gruß, und damit gut. So jedoch denke ich sofort, dass das irgendwie verräterisch ist. Dass mit dem Hinweis auf die Eile etwas zum Ausdruck kommt und mit dem überschwänglichen Gruß will er es gleich wieder dementieren. Was? - Das Abwimmlerische, das ich empfinde als Botschaft hinter der unnötigen Bemerkung: Bin in Eile. Habe keine Zeit für Dich. Habe Wichtigeres zu tun. Komme also bloß nicht auf die Idee, etwas von mir zu wollen, das Du möglicherweise willst. - Und weil er als bayrischer Katholik reflexartig ein schlechtes Gewissen hat wegen dieser Art, mit dem sogenannten Nächsten umzugehen, hinterher die Reinwaschung von Schuld mit der großen Herzlichkeit. – Nun könnte ich zwar tatsächlich etwas wollen von ihm: Ihn fragen, ob er einen Auftrag hat für mich. Oder ich könnte ihm ein Projekt anbieten wollen. Aber das hatte ich überhaupt nicht vor. Und deshalb fühle ich mich nun schlecht behandelt - zurückgewiesen, abgewimmelt, obwohl ich gar nichts wollte. Als aufdringlich hingestellt, obwohl ich weit entfernt davon war es zu sein. Was nicht passiert wäre, wenn er es bei einer knappen sachlichen Mitteilung belassen hätte und bei einer Grußformel, die nicht gerade LG xxxxx lautet. – Ich bin hypersensibel? Und wie! Und damit noch lange nicht genug. Denn jetzt kommt die Nachdenklichkeit: Rede ich mir das nicht nur ein? Hat er möglicherweise nur den Schwung, in dem er gerade war in seiner Eile, hat er den gewissermaßen Live zum Ausdruck gebracht? – Kann sein. Kann aber auch sein, dass er sich gerade deshalb verraten hat, weil er so im Schwung war. – Frage ich ihn doch einfach, denke ich. Schreibe ich ihm und spreche ihn an auf meine Irritation. Befremden werde ich damit nicht auslösen, weil meine Überempfindlichkeit ihm bekannt ist. Aber mache ich damit nicht eben das, was er vermeiden wollte? Denkt er dann nicht, ich will mich bei ihm einmenscheln und in Wahrheit will ich was ganz anderes von ihm. Will ich aber nicht. Also schreibe ich ihm nicht. Werde keine Erklärung bekommen für seine Formulierung. Finde mich ab. Und damit gut. Bin nämlich heute auch ein bisserl in Eile. Wegen Umzugsvorbereitungen. Das Biest zieht um. Morgen ist hier Schluss. Morgen gibt es hier den letzten Post. Titel: Umleitung. Und dann geht es weiter im Nachfolge-Blog: Biest zu Biest. Wie von Biest zu Biest, wie sagt ein Biest zum anderen, wie face to face. Biest zu Biest.
Sonntag, 26. September 2010
Marathonlauf
Das mit der Tess. Dass das auch ein Glück ist. Dass sie immer noch da ist auf ihre Art. Mit dem Licht und wie sie sonst Präsenz zeigt. Dass sie sich nicht abgewandt hat von mir. Und dass sie einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat, dass ich sie mir nicht klein oder schlecht reden kann. Deshalb stelle ich mich heute gegen 10 Uhr im Regen auf den Mittelstreifen der Grunewaldstraße und warte auf die Spitzengruppe des Marathonlaufs, aber eigentlich darauf, dass die Tess plötzlich hinter mir steht. So wie letztes Jahr, als ich mir so lange unsicher war, ob sie es ist oder nicht; bis sie es satt hatte, und als ich mich dann schätzungsweise zum zehnten Mal nach ihr umschaute, war sie verschwunden. Damals schien die Sonne und sie hatte eine große Sonnenbrille auf. Eine abgetragene schwarze Strickjacke hatte sie an und darunter eine Bluse mit einem Muster aus bunten Rechtecken. Sie war ganz anders gekleidet als bei früheren Gelegenheiten, bei denen ich sie gesehen hatte. Vor allem die hautengen schwarzen Jeans und die schwarzen Turnschuhe mit den dicken Sohlen und dazu die heruntergerollten Wollsocken passten überhaupt nicht zu ihrem Kleidungsstil oder dem, was ich bis dahin für ihren Kleidungsstil gehalten hatte. Im nachhinein bezweifle ich jedoch, dass es tatsächlich diese ganz andere Art ihres Angezogenseins gewesen ist, die mich so unsicher gemacht hat. Rückblickend denke ich, dass es mir gerade recht war, mir nicht sicher sein zu können. Weil ich meiner selbst nicht sicher war. Weil ich mich nicht getraut habe, sie anzusprechen. Weil ich es mir nicht zutraute, ihr zu gefallen. Weil ich fürchtete, sie zu enttäuschen mit meiner Realität. Und weil ich mir selbst nicht gefallen habe damals. - Jetzt bin ich meiner sicher. Jetzt würde ich mich trauen. Aber heute hat sie nicht plötzlich hinter mir gestanden auf dem Mittelstreifen. Ich hatte es allerdings auch nicht für sehr wahrscheinlich gehalten, dass sie da auftauchen würde. Ich wollte nur die geringe Möglichkeit nicht ausschließen. Deshalb habe ich auch nicht länger gewartet, ob sie vielleicht doch noch kommt, und bin nach Hause gegangen, nachdem die Spitzengruppe mit den afrikanischen Läufern, die das Rennen unter sich ausmachen, durch war. Wie schon im Vorjahr habe ich mir reflexartig eine Wiederholung in Zeitlupe gewünscht, nachdem die zehn, zwölf Läufer an mir vorbei gerannt waren, weil man einfach nicht so schnell gucken kann, wie die rennen. Viel zu schnell, um in die Gesichter schauen zu können oder sich ein Bild von der Gruppe zu machen, um unterscheiden zu können, welche Läufer nur Tempomacher sind und aussteigen werden, nachdem sie sich ausgegeben haben, und wer die volle Distanz laufen wird. Mit dieser Geschwindigkeit. Über 42 km. Das habe ich mir dann vorzustellen versucht auf dem Heimweg: Was für eine Lust das sein muss, 42 km in diesem Tempo zu laufen.
Samstag, 25. September 2010
Süchtig
Das mit den Zuschauerinnen. Das mit dem Cindy-Plot. Das mit meinem suchtartigen Verhältnis zum Plotten: obwohl ich sehe, das wird nichts, ich bin am falschen Platz (verlorener Posten), komme ich nicht davon los, wie ich von der Tess nicht loskomme. Das mit der Tess. – Zuschauerinnen: Statt mich zu unterwerfen der Kundschaft, statt etwas für sie zu machen, lieber etwas machen über sie. Noch besser wäre allerdings, was zu machen mit der Kundschaft. Idee von letzter Woche: eine typische Sat 1-Zuschauerin in einen Plot hinein versetzen. Aber nicht wie zuerst gedacht in einer Nebenrolle. Sondern in einer Hauptrolle, so dass die Zuschauerin die Cindy ist oder die Schwester, aber die Schwester nun als Hauptperson. Denn Cindy kann die Zuschauerin nicht sein, das wäre unrealistisch (bitte nicht lachen!). Also die Cindy-Geschichte erzählen aus der Perspektive der Schwester. Aus der Perspektive einer in den Privatfernseh-Plot versetzten Zuschauerin, einer idealtypischen. Nur, wenn die idealtypisch ist, die Zuschauerin, hat die dann tatsächlich neben den drei Kindern und dem abends vor Erschöpfung stumpf vor sich hinblickenden Mann ein heimliches Verhältnis mit dem Nachbarn, der die Jugendliebe von der Cindy ist? Wieder nicht realistisch. Aber durch den Wirbel des TV-Movie-Plots, von dem ihr Leben erfasst wird. kann sie ja ein Verhältnis kriegen mit dem Nachbarn. Das wird sich zeigen. Jetzt hat sich bereits gezeigt, wie mich jedes Mal meine Plotsucht wieder kriegt. Gestern noch berechtigte Fundamentalzweifel an den Cindys dieser Welt und den Männern zwischen denen sie stehen: dem Dieter-Bohlen-artigen Vollproll, dem verführerischen Silberrücken mit seiner ältlichen Romantik und dem Habenichts mit Herz. Gestern noch kurz davor, endlich den Schneid zu haben, das alles hinzuschmeißen. Kurz vor dem Entschluss, ab jetzt nur noch meins zu machen, auf meinem Material zu plotten, nichts Ausgedachtes mehr, nur noch was ich kenne, mein Leben und das Leben von ein paar Anderen, die ich kenne. Heute Morgen aufgewacht mit dem Vorgefühl der Freiheit. Die Käfigtür ganz weit offen. Ich musste nur noch zur Käfigtür rausgehen. Völlig egal wohin. Das wird sich schon finden, wenn ich mich erst mal frei bewegen kann. Und jetzt, 17 Uhr 32, sitze ich schon wieder im Käfig, als könnte ich es nicht besser haben, und bin kurz davor, die Käfigtür von innen zu zu schlagen. Nur weil ich wieder einen Dreh gefunden habe, wie ich weiter machen kann. Während ich das schreibe, mache ich mir nebenbei schon erste Notizen in der Plot-Datei für den neuen Ansatz mit der Schwester, der idealtypischen Zuschauerin in der Hauptrolle. Kaum erwarten kann ich es, damit anzufangen. - Das Verhängnis ist, dass mir immer etwas einfällt. Klingt wie Koketterie und jeder denkt, was beschwert der sich, ist doch klasse. Aber tatsächlich ist es nur eine schlechte Angewohnheit, das Haben dieser Einfälle. Denn wo haben die Einfälle mich hingeführt? – Verarmt bin ich. Völlig verstiegen habe ich mich existentiell. Und nicht mehr ich selbst bin ich bei der ganzen Plotterei, die im Grunde nichts anderes als ein Sprechen mit komisch verstellter Stimme. – Finde mir eine Gruppe der Anonymen Plotsüchtigen und beim nächsten Treffen bin ich dabei! - Ich heiße Wolfgang. Ich bin plotsüchtig. Angefangen hat es ganz harmlos, als ich 15 Jahre alt war. Da habe ich den Film Blow Up von Michelangelo Antonioni gesehen ... . Fortsetzung folgt.
Freitag, 24. September 2010
Pingelig
Beim ersten Gedanken an Cindy heute Morgen der Schreck: Die hat im ersten Akt Sex mit drei Männern. Nicht, weil das ihre Art ist, sondern aufgrund der besonderen dramatischen Umstände, in die ich sie verwickle. Doch egal warum, sie hat in 23 Filmminuten dreimal Sex. Mit dem Mann, den sie kurz darauf verlassen wird, weil sie entdeckt, dass er auf dem Absprung zu einer andere Frau ist. Mit ihrer Jugendliebe, dem Mann, den sie zufällig wieder trifft und bei dem sie Trost findet. Schließlich mit dem Mann, den sie kurz darauf neu kennenlernt und mit dem sie ihre nächste feste Beziehung eingehen wird. – Drei Männer. Dreimal Sex. Geht das? Ist das erlaubt? - Den Jugendschutz wird das weniger interessieren, schätze ich. Aber was ist mit den Zuschauerinnen, den Zuschauerinnen? Darf denen das zugemutet werden? – Ich habe es schon im Ohr, wie die Produzentin darauf hinweist, dass es schließlich auch Zuschauerinnen gibt, die konfessionell gebunden sind: christlich, muslimisch, jüdisch, wiedergeboren. Oder, noch gravierender: Wie viele Zuschauerinnen gibt es, die wie ich lieber nicht darüber reden, wie lange das zurück liegt, als sie zum letzten Mal einem anderen Menschen nahe, ganz nahe gekommen sind. Wie wird denen das ins Gemüt gehen, nun Cindy miterleben zu müssen mit drei Männern in 23 Minuten? – Halten die das aus oder erinnert sie das so schmerzhaft an ihr Leben, dass sie spätestens beim dritten Mann fluchtartig wegschalten? - Andererseits darf man die Zuschauerinnen auch nicht unterschätzen. Die haben schließlich auch ihre Seherfahrungen. Die wissen doch schon, dass das nicht gut gehen kann. Und gerade deshalb legen sie die Fernbedienung erst mal zur Seite und warten darauf, dass das auf die Cindy zurückfällt im zweiten Akt, was sie da getrieben hat im ersten. Dann muss das aber auch bitteschön kommen! Dann muss die Cindy dafür büßen. Obwohl sie eigentlich gar nichts dafür kann. Denn mit den drei Männern, das hat sie ja nur gemacht wegen der besonderen dramatischen Umstände, in die ich sie gehetzt habe. - Später beim Plotten dann wie gelähmt. Keine Einfälle. Habe ich den Tee zu lange ziehen lassen? Bin ich eingeschüchtert, weil ich zu viel an die pingeligen Zuschauerinnem gedacht habe? Oder mal wieder Fundamentalzweifel: Ist mir Cindy im Grunde genommen völlig gleichgültig? Sollte ich mich endlich von den Cindys dieser Welt verabschieden und nur noch von mir und von Leuten erzählen, die ich mir nicht erst ausdenken muss, weil ich sie kenne? Dann müsste ich mich auch nicht mehr mit den Zuschauerinnen rumreißen, weil die sowieso kein Interesse haben an mir oder den Leuten, die ich kenne. Allerdings gäbe es dann auch nichts mehr zu besprechen mit der Produzentin. Und das wäre ein Verlust. Denn was die sich alles denkt über die Zuschauerinnen und damit wahrscheinlich auch noch richtig liegt, darüber möchte ich unbedingt noch mehr erfahren. Die Zuschauerinnen und ihre Pingeligkeit, mit der sie auf ihren Wünschen, Träumen, Sehnsüchten bestehen, und das mit Recht, denn sie sind nun mal die besten Kunden des Fernsehens und andere gibt es bald nicht mehr - das ist ein Thema, da ist das Leben und nicht bei Cindy und ihren Männern. Aber ohne Cindy nun mal kein Gespräch mit der Produzentin und kein Stoff für eine Geschichte über die Zuschauerinnen. Kein guter Tag.
Donnerstag, 23. September 2010
Grausam
Fernsehen. Was geht und was nicht geht. Zum Beispiel, dass Kinder absichtlich und böswillig verlassen werden von ihren Eltern, das geht nicht, sagt die Produzentin. Und ich ahne schon warum. Weil das zu schwerwiegend ist für die Zuschauerinnen? – Deswegen und weil Sie das beim Jugendschutz nicht durchkriegen. Das darf nicht gezeigt werden in der Prime Time, dass Kinder verlassen werden. - Aber das Verlassensein des Kindes ist doch nur die Fallhöhe in meiner Idee. Der Abgrund, der sich auftut als Bedrohung. Tatsächlich ist das Kind doch immer in Begleitung eines Erwachsenen. Erst in Begleitung der Mutter, dann in Begleitung des Mannes, den die Mutter bittet, auf das Kind aufzupassen auf dem Flug nach Kanada, bis es abgeholt wird in Toronto. – Wird es dann da abgeholt? - Nein, aber die Mutter hat dem Kind eine Adresse mitgegeben für den Fall, dass im Flughafen in Toronto was schiefgeht. Und der Mann bringt das Kind dann zu der Adresse. – Zu den Großeltern? – Zu den Eltern des Kindsvaters, dem die Mutter das Kind überlassen will. Nur, der ist jetzt tot oder sonst wie verschwunden. Und seine Eltern, also die Großeltern, die wollen das Kind nicht. – War das abgesprochen mit dem Vater, dass das Kind kommt? – Nein, die Mutter will das Kind loswerden und schickt es deshalb nach Toronto. Soll sich der Vater um das Kind kümmern! – Und der will das Kind nicht haben? – Der ist wie gesagt tot oder sonst wie verschwunden. – Und die Großeltern? – Sind zu alt oder zu arm oder hartherzig oder wollen mit ihrem Sohn und seinem Leben nichts zu tun haben. – Das geht nicht. Das geht auf keinen Fall. – Weil es zu grausam ist? Seelisch? – Verlassenes Kind geht nicht. Das wird nicht akzeptiert vom Jugendschutz. – Aber das Kind ist ja nicht verlassen. Weil jetzt der Mann Verantwortung für das Kind übernimmt. Das will der zwar nicht, aber das ist dann die sehr komische und berührende Geschichte, wie das Kind dem Mann keine andere Wahl lässt, als dass er sich um es kümmert. Nichts wirklich Neues. Aber immer wieder schön. Charles Chaplin, The Kid. Luc Besson, The Professional. Mit der ganz jungen Natalie Portman und Jean Reno. Und nicht zu vergessen, Wim Wenders, Alice in den Städten. – Wenders ist langweilig. - Die frühen Filme von Wenders sind nicht langweilig. - Egal. Alles Kino. Im Kino können Sie machen, was Sie wollen. Da gibt es die Altersfreigaben von der FSK. Beim Fernsehen ... . - Gibt es die Zuschauerinnen. - … sitzen die Kinder davor um 20 Uhr 15 und da wacht der Jugendschutz. Sie glauben gar nicht, weswegen ich schon Probleme mit denen hatte, als ich noch bei XXXX war. – Kinder. Märchen. Schneewittchen. Die Mutter schickt den Jäger mit Schneewittchen in den Wald. Er soll sie töten. Macht er nicht. Lässt sie laufen. Schießt ein Reh. Schneidet ihm das Herz raus, bringt es der Mutter und gibt vor, dass das das Herz von Schneewittchen ist. – Ich kenne Schneewittchen. – Darf im Fernsehen auch nicht gezeigt werden, oder? – So, in dieser Deutlichkeit nicht. – Dann brauchen Sie es gar nicht zu erzählen. Dann dürfte man Schneewittchen also im Fernsehen nicht zeigen. – Es gibt eine amerikanische Kinoverfilmung von Schneewittchen mit Sigourney Weaver als böser Mutter, die ist von der FSK freigegeben erst ab 16. – Wegen sexuell expliziter Szenen mit den Zwergen? – Nein, wegen der Grausamkeit ... . – So hat die Produzentin auf alles eine problembewusste Antwort. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass es ihr Liebstes ist, wenn sie sagen kann, dass irgendwas nicht geht. Ich habe noch nie zuvor eine Gesprächspartnerin erlebt in der TV-Branche, die die Spielräume so eng macht wie sie. Schon schade, dass das mit dem Kind und dem Mann nicht geht im Fernsehen. Denn die eigentliche Geschichte ist die von dem Mann. Narr der Veränderung. Will ein neues Leben anfangen, nach Gold graben in Kanada, so ein Willenskitsch, und dann kriegt er auf dem Flug dahin das Kind angedreht von der Rabenmutter, und jetzt hat er es, sein neues Leben, wie er es sich niemals vorgestellt hat, wie es ihm aber besser nicht hätte passieren können. Vielleicht findet sich dafür mal ein anderer Gesprächspartner. Habe der Produzentin auch nur vom Mann und dem Kind erzählt für den Fall, dass wir mit dem Cindy-Plot nicht ins Geschäft kommen. Von dem meint sie nach ersten Eindrücken, dass der den Zuschauerinnen gefallen könnte, und sie ist gespannt auf mehr. - Die Idee zu der Mann-Kind-Geschichte ist übrigens angeregt von einer Kurzgeschichte aus The New Yorker: The Kid. Bitte lesen!
Mittwoch, 22. September 2010
Sonst
Die Überraschung am Morgen! Henryk Broder schreibt für Springer über Springer: Sorry Axel, ich hab mich geirrt! Lesenswert! – Und auf THE DAILY BEAST Tilda Swinton Uncensored - ihr überraschender Auftritt als Model. Sehenswert! - Und sonst? Der immer noch und jetzt anscheinend endgültig getrennte Raucher auf der Straße, ich nenne ihn einfach mal Bernd, er ist jetzt doch bereit, seiner Frau die Wohnung zu überlassen, wenn das mit ihrem Wohnungskauf nicht bald klappt. – Sie macht mit dir, was sie will. – Nein, nein. Das ist vernünftiger so. Außerdem würde die Tochter dann mit ihr zusammen wohnen für ein Jahr. – Das hat sie ja schlau eingefädelt, denke ich. Kein Wunder, dass sie sich allen anderen überlegen fühlt, wenn sie mit ihnen umspringen kann, wie es ihr gerade passt. Das monumentale Selbst wahrscheinlich auch noch ausgestattet mit einem sicheren Instinkt dafür, mit wem sie es machen kann. Bernd ein Opfer? Herzensgut jedenfalls. Hat gerade eine Steuerrückzahlung bekommen. In den nicht mehr fernen Herbstferien könnte er mit dem Geld nach Schottland reisen für 14 Tage. Aber es könnte auch sein, dass er es seinem jüngsten Sohn aus erster Beziehung schenkt, damit der damit seinen Führerschein machen kann. – Und sonst? Mail von Stephanie mit Fotos vom soeben eingeschulten Sohn Nikolaus und mit einem Nachsatz, der mich erleichtert: Habe inzwischen CASH ganz fertig gelesen...beim nächsten Mal schenke ich Dir wieder Musik! - Kann nur heißen, sie versteht es, wenn ich das Buch von Richard Price nicht lesen werde, das sie mir zum Geburtstag geschenkt hat. Michael gegenüber, der mir das Buch auch zum Geburtstag geschenkt hat, habe ich es bereits angedeutet, dass ich schon nach dreissig Seiten genug hatte - als sich diese Menschenschlange bildet auf der Straße vor einem Laden in der Lower East Side, in dem auf der beschlagenen Scheibe einer Tiefkühlertür eine Marien-Erscheinung zu bestaunen ist. Voller Wehmut habe ich mich da erinnert an eine Menschenschlange, die sich bildet in Brooklyn vor dem Eingang zu einem Hinterhof in einem Roman von Hubert Selby. Last Exit Brooklyn. Kapitel: Die Hure Tralala. Keine Einzelheiten, weil das hier sollen auch aufgeweckte kleine Mädchen lesen können. Nur als Hinweis, wenn ihr einmal groß seid: Was in dem Hinterhof in Brooklyn passiert, das ist Weltliteratur. Während das bei Richard Price mit der Jungfrau Maria und dem Typ, der sich seit sechs Monaten vor der Polizei versteckt, nachdem er seine Frau umgebracht hat, und der nun mit feuchten Augen vor der Jungfrau kniet und den ihn erkennenden Polizisten die Arme entgegen streckt für die Handschellen - das mag sogar recherchiert und nicht mal ausgedacht sein, und trotzdem ist es einfach nur Lesestoff. - Und sonst? Schreibt sich das so leicht hin mit dem Gefühl der anhaltenden Fassungslosigkeit und dass ich nicht darüber hinweg komme, dass die Tess und ich uns nie wirklich kennengelernt haben. Im Alltag sieht das jedoch so aus, dass ich aufpassen muss, dass ich nie länger als 30 Sekunden daran denke, sonst komme ich wieder in die bedrohliche Nähe des Gefühls, gleich verrückt zu werden. Alleine schon deshalb war das keine gute Idee gestern mit dem Gespenster-Text und dem Plan, mich durch kühle Beobachtung auf Distanz zu schreiben. Experiment misslungen. Text hat nicht funktioniert. Distanzierung hat nicht funktioniert. Ich komme nicht von ihr los. Also muss ich zu ihr hin. Wie? Fortsetzung folgt.
Dienstag, 21. September 2010
Paar
Experiment. Textform, die entstanden ist: Kein Name, nur sie, nur er. So mal schreiben über ein Paar. Nur Bilder. Kein Ton. Frage: Was ist das für ein Paar? - Ein Paar, das oft streitet. Vielleicht auch gar nicht so oft streitet. Streit gehört dazu. Was ist oft? Auf jeden Fall ein Paar, das sich immer wieder entzweit. Alle sechs Wochen oder zwei Monate. Dann zieht sie sich zurück in ein separat gelegenes Zimmer. Eine Woche, manchmal zwei Wochen. Irgendwann sind sie wieder versöhnt. Es scheint wieder eine Weile gut zu gehen. Auch eine Form der Paarstabilität. Der kritische Punkt ist nicht die Entzweiung. Der kritische Punkt ist die Versöhnung. Die schaffen sie jcdes Mal wieder. Frage natürlich wie? – Vorher der Streit. Sie ist diejenige, die sich zurückzieht. Er kommt ihr hinterher gelaufen. Er redet auf sie ein. Sie sitzt unbeweglich da. Schweigt. Beharrlich. Schaut weg. Unversöhnlich. Lässt ihn reden. Ungerührt. Trotzig. Bockig. Stur. Interessiert sie nicht mehr, was er sagt. Sie ist beleidigt? Gekränkt? Sie hat die Schnauze voll von ihm? – Nicht zu erkennen. Auch nicht an seinem Verhalten, wenn er da steht und auf sie einredet. - Wie? - Bezichtigend. Das ist zu erkennen. Und dass er den Streit fortsetzen will. Sie hingegen nicht. Sie hat genug. Von seinen Klagen. Beschwerden. Vorwürfen. Bezichtigungen. Sie will nichts mehr hören. Blick starr geradeaus. Fehlen nur noch die vor der Brust verschränkten Arme. Doch das macht sie nicht, die Arme vor der Brust verschränken. Aber ihre Körperhaltung ist die von jemandem, der die Arme verschränkt hat. – Ist es nicht so, dass es meist die Frauen sind, die weiter reden wollen im Streit? Und meist sind es die Männer, die sich zurückziehen. Aus Abscheu auch vor der Hässlichkeit des Streits, wegen des Klein-Kleins der immer gleichen Vorwürfe verweigern sie sich der Fortsetzung der Kommunikation, der Gemeinsamkeit. Illustrierten-Psychologie. Doch deshalb nicht falsch. Solange geredet wird, so lange ist noch Gemeinsamkeit. Die verweigert sie mit ihrem Rückzug und ihrer Verschlossenheit. Er hingegen will die Gemeinsamkeit aufrechtzuerhalten, indem er ihr hinterher geht und auf sie einredet. – Was heißt? – Dass er das Mädchen ist in der Beziehung? Und sie der Kerl? – Aufdringliche Neugier Heterosexueller gegenüber homosexuellen Paaren: die Spekulation darüber, wer bei dem Paar die Frau ist und wer der Mann. – Alte Sprache: Wer hat die Hosen an in der Beziehung? – Wer hat die Hosen an beim streitenden Paar? - Sie riskiert den Verlust der Gemeinsamkeit, sie ist die treibende Kraft bei der Entzweiung. – Kann aber auch heißen, und so ist es wahrscheinlich auch: Er liebt sie mehr, als sie ihn liebt. Er hängt mehr an ihr als sie an ihm. - Trotzdem versöhnt sie sich dann wieder mit ihm. Er muss sich nicht versöhnen. Sie ist weggegangen. Jetzt kommt sie zurück. Sie gibt nach. Seinem Drängen? Sie Lenkt ein. Aus Einsicht? Aus Resignation? Mangels Alternative? Weil sie sich auf die Gemeinsamkeiten besinnt? Das Trennende verdrängt? Vergisst? Bis zum nächsten Streit. – Nur Bilder. Kein Ton. Nur das Paar. Kein Kontext. Nur die Beobachtungen. Erste Annäherung. Experiment. Misslungen?
Montag, 20. September 2010
Ausschreitungen
Auf meinem internen Globus ist Neukölln so weit weg wie Afghanistan oder der Irak. Ich meine das in einem ironisch geographischen Sinn. Doch es kommt schon noch hinzu die Vorstellung, dass in den Straßen Neuköllns die Zustände so sind, dass ich froh bin, da nicht leben zu müssen. Als ich dann einmal durch den Volkspark Hasenheide gefahren bin mit meinem Fahrrad an einem Sommersonntag vor zwei Jahren, war ich so überrascht von der Abwesenheit jeglichen sichtbaren Gefahrenpotentials, dass ich am Ausgang kehrt gemacht habe und noch mal eine Runde durch den Park gefahren bin, um sicher zu gehen, dass ich nichts übersehen habe. Es kann allerdings sein, dass an jenem Sonntag die von mir vermissten schwerbewaffneten Kleindealer, gewaltbereiten Jugendlichen und maulkorblosen Kampfhunde gerade den Umzug des Karnevals der Kulturen angeschaut haben, der nicht weit entfernt vorbeigezogen ist. Außerdem ist bei der folgenden Szene noch zu berücksichtigen, dass ich Lokalnachrichten nur am Rande mitkriege, da ich mit der Beobachtung des Weltgeschehens so viel zu tun habe, dass ich den Nachrichtenkonsum zu meiner Haupttätigkeit machen müsste, wollte ich auch noch Lokalnachrichten verfolgen. So erreichen mich Lokalnachrichten nur, wenn ich im Laden von Sülo und Sinan darauf warte, dass mir meine tägliche Packung Zigaretten ausgehändigt wird, und während dessen die Titelseite des Berliner Kuriers lese, oder wenn in Hörweite von mir Lokalnachrichten mündlich verbreitet werden. Wie geschehen heute Früh vor der Kasse des Hallenbades am Sachsendamm, das heute zum ersten Mal nach der Sommerpause wieder für Frühschwimmer geöffnet war. Deshalb große Wiedersehensfreude beim Mann an der Kasse und mir. Ob er einen schönen Sommer hatte, frage ich ihn. – Naja, das Wetter, das hätte ich ja auch miterlebt, meint er. – Und menschlich? hake ich nach und meine damit persönlich. – Der Mann an der Kasse setzt dazu an, zu sagen, dass es menschlich auch nicht so toll war, und meint das auch persönlich. Worauf der hinter mir stehende Mann sich in unser Gespräch einmischt, indem er menschlich als gesellschaftlich versteht. Menschlich, sagt der hinter mir stehende Mann, seien ja wohl vor allem die Ausschreitungen zu erwähnen, die es in den Freibädern gegeben hat. – Ich: Ausschreitungen? – Er entschuldigt sich bei dem Mann hinter der Kasse, dass er ihn unterbrochen hat, aber wenn er das dem Herrn hier, damit meint er mich, mal kurz erzählen dürfe. – Der Mann hinter mir ist einen Kopf größer als ich. Um die 40. Er hat lange am Hinterkopf zusammengebundene Haare wie ich, ist nachlässig gepflegt gekleidet und kommt mir vor wie aufgezogen – als hätte er nur darauf gewartet, seine Nachricht zu verbreiten und seinen Kommentar abzugeben. Die Nachricht: Im Prinzenbad und im Columbiabad ist es an den Hochsommertagen zu so heftigen Ausschreitungen gekommen, dass die Bäder danach (d.h. an dem jeweiligen Tag) geschlossen werden mussten. Dass da wie dort türkische Sicherheitskräfte im Einsatz sind, habe nichts genutzt, weil die Jugendlichen mittlerweile sogar auf ihre eigenen Leute losgingen. - Das waren also türkische und arabische Jugendliche? frage ich. – Er nickt und jetzt kommt sein Kommentar. Mit mahnend erhobener Stimme sagt er: Das ist unsere Zukunft! – Darauf fragt er den Mann an der Kasse, wo die Fortbildung stattfindet. Woraus ich schließe, dass er Lehrer ist, Sportlehrer. Denn was für eine Fortbildung sollte sonst am frühen Morgen in dem Schul- und Vereinsbad am Sachsendamm stattfinden als eine Fortbildung für Sportlehrer. – Mit den anderen Schlüssen, die ich jetzt zu ziehen habe, ist es nicht so einfach. Eigentlich habe ich zwei andere Themen vorliegen, über die ich beim Schwimmen nachdenken will. Jetzt muss ich mich mit den Ausschreitungen und der Besorgnis des etwa 40jährigen Lehrers befassen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, das sei ein irgendwie geordnetes Nachdenken gewesen. Es war mehr ein Brüten über drei Umständen. Erstens: Es ist nicht richtig, in einen Dandyismus von political correctness zu verfallen und Menschen zu verunglimpfen, die sich Sorgen machen; auch dann nicht, wenn sie sich alarmistisch äußern. Zweitens: Wenn männliche Jugendliche mutmaßlich orientalischer Herkunft an einem Hochsommertag in einem Freibad randalieren, geht es bestimmt nicht um Feinheiten der Koranauslegung, sondern wahrscheinlich um Mädchen oder die Abwesenheit von Mädchen. Drittens: Gewaltaktionen von Jugendlichen fallen ins Aufgabengebiet der Polizei und der Justiz, und wenn Polizei und Justiz ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, sollte man sie quantitativ (personell) und qualitativ (Fortbildung) stärken, aber nicht deswegen gleich die Gesellschaftsordnung in Frage stellen. – Später google ich „Prinzenbad Ausschreitungen“ und finde einen SPON-Artikel mit dem Titel: Revierkämpfe auf der Liegewiese. Beim Lesen fällt mir auf, dass die Autoren vermeiden, Aussagen über die Herkunft der an den Ausschreitungen beteiligten Jugendlichen zu machen. Erst die Stellungnahme eines ausführlich zitierten Kriminologen legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Randalierern mehrheitlich nicht um Jugendliche gehandelt hat, die vor zwei Jahren noch zum Konfirmantenunterricht gegangen sind. Das haben die Autoren selbstverständlich so beabsichtigt, keine Aussagen über die Herkunft der randalierenden Jugendlichen zu machen und erst mit Hilfe des Zitats einen Hinweis darauf zu geben, um den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Ich komme zu dem Schluss, dass diese Schreibtaktik ebenso verhaltensauffällig ist wie der Auftritt des 40jährigen Lehrers von heute Früh und fluche leise vor mich hin, weil ich mich jetzt auch noch damit beschäftigen muss.
Sonntag, 19. September 2010
Nackt
Peter hat seit drei Tagen Schluckauf. Und dass wir heute keinen dritten Versuch machen können mit meinem Gesicht, wieder mit Spiegelreflexkamera, aber jetzt mit natürlichem Licht, das ist noch das geringste Problem. Sein Hicks kommt in Abständen von etwas 30 Sekunden. Und alle bekannten Methoden, ihn wegzukriegen haben bislang versagt. Gestern, als er mit Honorata zusammen war drei Stunden lang, ging der Hicks vorübergehend weg. - Ablenkung hilft. Ablenkung und Entspannung. Bei mir findet er die nicht. Unser Telefongespräch ist von Anfang bis Ende begleitet von seinem Schluckauf. Ich denke, ich lasse ihn jetzt besser in Ruhe, und will das Gespräch schnell beenden. Doch dann will er noch was ansprechen. – Was kommt jetzt? - Er holt aus. Ein Freund, ehemaliger Zeit-Redakteur hat ihn befragt zum Thema Sozialarbeit. Richtig ausgesaugt hat der ihn. Und dann darüber einen Artikel veröffentlicht im Merkur. Peters Input verteilt auf mehrere Personen, die er erfunden hat, um den Eindruck zu erwecken, dass er nicht nur mit Peter gesprochen hat. Kein Problem. Aber: Peter hat ihm eine CD gegeben mit seiner Fotoserie Nackte Wände. Vor Wochen schon hat er ihm die CD gegeben. Und bis heute keine Reaktion darauf von ihm bekommen. Kein Wort. - Oh. Jetzt weiß ich, worauf er hinaus will. Mir hat er auch eine CD gegeben. – Peter: Er erwartet nicht gelobt zu werden. Für ihn ist das völlig in Ordnung, wenn jemand sagt, dass er da nichts mit anfangen kann oder dass er es scheiße findet. Aber gar nichts sagen, das ist nicht in Ordnung. - Das verstehe ich. Nur zu gut. Vor kurzem zu Michael: Liest du meinen Blog? - Er: Ähm, nein. - Ich: Also, wenn du einen Blog schreiben würdest, ich weiß nicht, ob ich den jeden Tag lesen würde, aber einmal die Woche würde ich bestimmt reingucken. - Ich jetzt zu Peter: Um ehrlich zu sein, ich habe die CD noch nicht angeschaut. Allerdings habe ich dir schon mal gesagt, was ich über die Mauerbilder denke. - Ja, aber das war, als ich gerade damit angefangen habe. Das hat sich ja weiter entwickelt. - Verstehe, sage ich. Die CD liegt auf dem Stuhl, auf dem all die Sachen liegen, die ich mir demnächst vornehmen will. - Da liegt sie auch. Aber die ganze Wahrheit ist, da kann sie in einem halben Jahr noch liegen. Ich verspreche, mir die CD mit den Fotos anzuschauen. Und ich gehe noch weiter: Ich werde die Fotos aus der Serie, die mir am besten gefallen, in einem meiner Blogs ausstellen. In den nächsten Tagen; heute schaffe ich das nicht mehr. - Dafür darf ich die Anekdote zum Titel erzählen: Peter kommt von der Aktfotografie. Bevor Peter einen Blick für die Details von Maueroberflächen entwickelt hat, hat er Freundinnen und auch schon mal Praktikantinnen fotografiert, wenn sie dafür aufgeschlossen waren. In einem Fall kam das heraus und er hat dafür einen Verweis von seiner Vorgesetzten bekommen. Mit dem Titel Nackte Wände spielt er auf diesen Vorfall an und signalisiert damit, dass er sich fotografisch einem anderen Sujet zugewandt hat, seinem eigentlichen Interesse aber treu geblieben ist.
Gleich
Auf SPON ein Interview mit Daniel Cohn-Bendit über das Buch von Sarrazin, den er einen Zwangscharakter nennt. Am Ende:
Cohn-Bendit: (….) Ich bestreite doch nicht, dass es Probleme gibt. Aber deswegen muss ich doch nicht auf das allerniedrigste Niveau herabsinken.
Spiegel Online: Sie meinen Sarrazins Ausflüge ins Reich der Genetik.
Cohn-Bendit: Zum Beispiel. Juden sind intelligent, Muslime nicht. Das ist schlichtweg rassistisch. Die Gesellschaft wäre ehrlicher, wenn fundamentalistische Christen, fundamentalistische Juden und fundamentalistische Muslime Hand in Hand demonstrieren würden gegen Abtreibung und gegen Homosexuelle. Die meinen nämlich alle das gleiche.
Cohn-Bendit: (….) Ich bestreite doch nicht, dass es Probleme gibt. Aber deswegen muss ich doch nicht auf das allerniedrigste Niveau herabsinken.
Spiegel Online: Sie meinen Sarrazins Ausflüge ins Reich der Genetik.
Cohn-Bendit: Zum Beispiel. Juden sind intelligent, Muslime nicht. Das ist schlichtweg rassistisch. Die Gesellschaft wäre ehrlicher, wenn fundamentalistische Christen, fundamentalistische Juden und fundamentalistische Muslime Hand in Hand demonstrieren würden gegen Abtreibung und gegen Homosexuelle. Die meinen nämlich alle das gleiche.
Samstag, 18. September 2010
Hotel
Pegasus, die Agentur, die mich vertritt, wenn es wieder mal was zu vertreten gibt, lädt ein zum verspäteten Sommerfest im Hotel Michelberger, Warschauerstraße 39. Hotel Michelberger? Was ist das denn? Wie kommen sie denn darauf? – Fast schon ein Grund hinzugehen, um das herauszufinden. Sonst spricht alles dagegen. Vor allem die Aussicht, dass ich nach einer halben Stunde wieder jegliche Anbindung an die Gesellschaft verloren haben werde, so verhuscht und vertrotzt in einer Ecke stehe, dass ich mich selbst nicht wiedererkenne und qualvolle fünfzehn weitere Minuten damit verbringen werde, genug Zeit vergehen zu lassen, um mich von den Gastgebern verabschieden zu können, ohne dass der Eindruck entsteht, ich sei, kaum da, gleich wieder verschwunden. Und dann heute auch noch über dieses vorhergesehene und genau so eingetretene Erlebnis schreiben zu müssen, das nicht anders bezeichnet werden kann als eine Verhaltensstörung – das ist doch die Gelegenheit endlich mal herauszufinden, was da mit mir passiert bei den sozialen Ereignissen meiner Agentur. - U-Bahnhof Warschauerstraße. Schräg gegenüber, erst auf den zweiten Blick zu erkennen, das Hotel Michelberger. Auch drinnen der Eindruck des ganz anderen Hotels. Gitterartige Ständer mit Büchern und Zeitschriften. Flache Sitzpolster mit Hotelgästen drauf. Lounge-Atmosphäre in der Lobby. Weiter hinten eine kreisförmige Theke aus Holz, niemand dahinter. Davor zwei wartende Hotelgäste, ältere Frau, jüngere Frau. – Ist das die Rezeption? frage ich aus purer Neugier, weil ich will ja nichts. – Antwort der älteren Dame: Ja. – Schön, sage ich. Und da kommt auch schon die junge Hotelmitarbeiterin und besetzt sie lächelnd, die Rezeption. Wirklich schön, denke ich und gehe nach links in Richtung der zur Lobby offenen Hotelbar, wo ich gleich meine Verhaltensstörung haben werde. Begrüßung durch Fabian, Andeutung eines Gesprächs, dann muss er sich um andere Gäste kümmern. Die andern Gäste sind Autoren, Regisseure, Schauspieler. Viele miteinander bekannt; im Gespräch. Dazu die üblichen Einzelgänger wie ich. An ihnen kann ich erkennen, wie ich selbst wirke: Lieber nicht ansprechen. Ich lasse mir eine Cola geben und gehe in den Hof, wo ich Beate, die Buchhalterin der Agentur entdeckt habe. Am Telefon müssen wir beide aufpassen, dass wir uns nicht verquasseln, bei den sozialen Ereignissen der Agentur kommen wir über höfliche Konversation nicht hinaus. Im Hof gibt es das Essen (Grill). Jetzt habe ich alles gesehen. Nur den Chef noch nicht begrüßt. Steffen ist noch nicht da. Mit dem Auto stecken geblieben. Macht nichts, ich kann auch gehen, ohne ihn begrüßt zu haben. Will ich aber nicht. Weil heute gefällt es mir. Der Platz gefällt mir. Wie seid ihr denn auf dieses Hotel gekommen? frage ich Beate. – Durch Anja, sagt sie und deutet auf die junge Frau, die gerade mit einem vollen Teller vom Grill kommt und sich zu uns an den Stehtisch stellt. Anja ist Schauspielerin. Wird von Pegasus vertreten. Und sie hat das Hotel eingerichtet. – Wie das? – Freundes- und Bekanntenkreis von elf Leuten um den Namensgeber des Hotels. Alles Leute mit kreativen Berufen. Das Hotel ist für sie eine Möglichkeit, sich ihr Brot-und-Butter-Geld zu verdienen. Jeder hat was dazu beigetragen. Ein Grafiker zum Beispiel hat die (im Wortsinn) spacige Website gestaltet. Und Anja hat die Ausstattung gemacht, bis zu den Fensterrahmen. Ganz durchschaue ich das nicht, wie die Gruppe sich zusammensetzt und was Anja jetzt noch zu tun hat mit dem Hotel, nachdem es eingerichtet ist. Aber es scheint so, dass sie in dem Hotel lebt. Und das ist beneidenswert. Das ist wahrer Luxus, im Hotel leben. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre haben jahrzehntelang im Hotel gelebt als Paar; jeder in seinem eigenen Zimmer. Vladimir Nabokov hat in den letzten sechzehn Jahren seines Lebens in einem Hotel in Montreux gelebt. Und Anja lebt im Michelberger in einem der 120 Zimmer – oder hat sie von 120 Betten gesprochen, die das Hotel hat? – Ich kann nicht weiter fragen, da es nun regnet und Anja mit ihrem Teller nach drinnen flüchtet. – Ich rauche meine Zigarette zu Ende und höre von Beate, dass es das Hotel seit einem Jahr gibt, dass es ein Geheimtipp und im Moment d e r Platz ist für Events wie das soziale Ereignis von Pegasus. Deshalb hat Steffen es blind gebucht über Anja, die jetzt am Schauspielerinnentisch in der Bar sitzt und zu Ende isst, während die Bar sich allmählich füllt und nun auch Herr Schlöndorff eintrifft, in Begleitung einer Dame, die wahrscheinlich seine Gattin ist. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, wobei ein Herr Schlöndorff sich von der Agentur Pegasus vertreten lässt. Steffen fragen. Der ist mittlerweile auch da. Ich begrüße ihn. Doch mehr Zeit als für einen kurzen Small Talk hat er nicht. Das ist übrigens mein Problem bei Ereignissen wie diesem: ich kann keinen Small Talk. Das sage ich einem Kollegen, mit dem ich ins Gespräch komme, als er mich fragt, ob die Getränke frei sind. Daran. dass er erst etwas bestellt, nachdem er sich versichert hat, dass die Getränke frei sind, erkenne ich ihn als Kollegen und wir haben gleich ein Gespräch, das kein Small Talk ist, den er im übrigen auch nicht beherrscht, wie er sagt. Nach dem Gespräch mit dem Kollegen fasse ich Zutrauen zu dem Ereignis und hole mir was zu essen. Mit meinem Teller setze ich mich an den Schauspielerinnentisch auf den freien Platz neben Anja. Ich würde sie gerne weiter ausfragen über ihr Hotel-Engagement. Doch am Tisch geht es erst um die Drei-Schwestern-Inszenierung von Castorf, dann um die Begeisterung für die Arbeit von René Pollesch und schließlich darum, dass Anja gerne Theater spielen würde. – Wie alt sie denn ist, fragt die gegenüber sitzende Kollegin. – 31 ist Anja. - Die gegenüber sitzende Kollegin, die vier Jahre am Deutschen Theater engagiert war, ist 35. – Und wie alt bin ich, fragt die gegenüber sitzende Kollegin. – 58. – Meine Altersangabe kommt mir vor wie ein Missklang. Doch das empfinde wahrscheinlich nur ich so. Anja wurde mit 13 auf der Straße entdeckt und spielt seither Fernsehrollen; sie hat viel für die Degeto gemacht und hat sich bislang noch nicht getraut bei einem Theater vorzusprechen, obwohl sie zum Beispiel einen Kontakt zur Volksbühne hat, über einen Freund, der allerdings nicht ihr Freund ist, wie sie betont. - Die gegenüber sitzende Kollegin ermutigt sie, es einfach mal zu versuchen. Ich sage, mit 31 wird es Zeit, dass sie es mal versucht. Und dann sage ich noch was über den Mut zum Scheitern und dass man Scheitern nicht immer gleich so persönlich nehmen und als Versagen ansehen soll. Mit Scheitern kenne ich mich aus. Anschließend beim Rauchen im Hof kommen wir ins Gespräch mit einem Kameramann und einem Regisseur. – Irgendwann geht es dann auch um`s Schreiben. Ich sage, dass ich jeden Tag schreibe. Dass das aber nicht heißt, dass ich erfolgreich bin. Und von da aus, ich weiß nicht mehr wie, kommen wir auf das Thema Morgenseiten. – Morgenseiten? Habe ich richtig gehört? Anja hat Morgenseiten gesagt? – Ja. Sie schreibt Morgenseiten. – Der Regisseur horcht auf. Er schreibt offenbar auch. Aber keine Morgenseiten. Wir erklären es ihm. Nennen ihm das Buch, woher wir das haben (Julia Cameron, The Artist´s Way) und worum es geht bei den Morgenseiten: Drei Seiten. Jeden Morgen. Vor allem anderen. Handschriftlich. Einfach drauflos schreiben. Was einem gerade durch den Kopf geht. Alles zulassen. Ergebnis völlig unwichtig. Es fließen lassen und so an die tieferen Schichten des Bewusstseins rankommen. - Mensch, Anja, das ist ja ein Ding! Du bist der erste Mensch, den ich treffe, der auch Morgenseiten schreibt. – Sie sagt, dass sie viele Leute kennt, die Morgenseiten schreiben. - Ich fasse es nicht. Die würde ich am liebsten alle kennenlernen. - Der Regisseur ist beeindruckt, er notiert sich den Titel des Buches (dt. Der Weg des Künstlers) in sein Handy. Wir sagen ihm, dass das Buch nicht so wichtig ist, eher ein bisschen peinlich (Lebenshilfe für verhinderte Kreative), nur das mit den Morgenseiten, das ist es, das soll er mal machen. Das Gespräch geht noch eine Weile weiter, aber der Text hier ist jetzt schon viel zu lang. Mit Verhaltensstörung wäre er kürzer geworden. Doch dazu ist es dieses Mal nicht gekommen. Als ich mich später bei Steffen für den Abend bedanke, umschreibe ich so höflich wie möglich, dass ich mich zum ersten Mal in dreizehn Jahren nicht gelangweilt habe bei einem sozialen Ereignis der Agentur. Steffen will mich Herrn Schlöndorff vorstellen, mit dem er gerade im Gespräch ist. Herr Schlöndorff winkt ab. Nicht nötig, sagt er, wir kennen uns schon. - Nicht, dass ich wüsste. Aber egal, wahrscheinlich will er nur, das wichtige Gespräch mit Steffen gleich fortsetzen. Beim Hinausgehen kommt mir in der Lobby eine Frau im Business-Dress entgegen, die einen Rollkoffer hinter sich herzieht. Sie fragt mich nach der Rezeption. Statt in die Richtung der Rezeption zu zeigen, fordere ich sie auf, mir zu folgen, und führe sie hin. - Danke. - Gerne. - Schöne Rezeption. Guter Platz. Guter Abend.
Freitag, 17. September 2010
Schokolade
Mir den Magen verdorben gestern Abend, weil ich über eine Tafel Schokolade hergefallen bin mit einer Wildheit, mit der ich mich mal besser der Tess angenähert hätte. die nun aber mal unerreichbar ist, und eine andere Frau interessiert mich nicht. Deshalb die Gier, mit der ich die Schokolade verschlungen habe, und in der Folge schon den ganzen Tag eine Magenverstimmung habe, bei der ich immer wieder an die Tess denken muss, weil sie ihr sozusagen gewidmet ist. Nach der Ersatzhandlung mit der Schokolade gestern Abend noch an die Tess geschrieben. Statt sie anzurufen, weil ich keine Lust auf den Professor oder den Anrufbeantworter hatte; einfach läuten hätte ich können gegenüber, aber auch das hätte wahrscheinlich nur zum Professor geführt. Geschrieben an die Tess unter dem Vorwand, ihr zu erzählen, dass ich demnächst Das tägliche Biest einstellen werde, weil ich mich nicht mehr wohlfühle mit dem leichtfertig und frech geklauten Titel, geklaut zu einem Zeitpunkt, als ich nicht ahnen konnte, wie wichtig der Blog einmal für mich werden würde. Dass ich den Blog also übertragen (verschieben) werde auf die bisherige „Nebenbühne“, Das alte Biest. Oder einen anderen Blog, den ich bereits eingerichtet habe, und bei dessen Titel ich mir noch nicht sicher bin, ob er mir so gut gefällt, wie der Titel Das tägliche Biest mir immer gefallen hat. Wann das sein wird, dass ich Das tägliche Biest einstellen werde, weiß ich noch nicht. Da geht es auch um eine Sentimentalität, die ich überwinden muss. Denn es war aus dem Schreiben an die Tess heraus, an einem Abend im Mai (auch noch im Mai), dass ich den Blog eingerichtet und begonnen habe. Deshalb habe ich es immer so gesehen, dass das auch der Tess ihr Blog ist, und sie sieht es auch so oder hat es so gesehen. Und deshalb war es schon mehr als ein Vorwand, als ich ihr das mit der Titeländerung gestern Abend erzählt habe und dazu erklärt, dass das nicht eine Geste der Distanzierung ist, wenn ich „unseren“ Blog aufgebe und mit dem täglichen Bloggen in einen anderen wechsle. - Schreibe ich ihr jetzt wieder regelmäßig? - Ich wüsste gar nicht was. Für den erreichten Stand unserer Bekanntschaft habe ich ihr schon alles geschrieben. Ich habe auch augenblicklich kein Gefühl der Art, dass es mir sagt, das wird noch was oder auch nur: da passiert noch was. Mein Gefühl für die Tess ist derzeit nur mehr das einer anhaltenden Fassungslosigkeit darüber, dass es uns nie gelungen ist, uns “wirklich” kennenzulernen. Und darüber komme ich nicht hinweg.
Donnerstag, 16. September 2010
Elend
Die Impressionen vom Fernsehpublikum gestern. Die Vorstellung von jemand, der mit 1000 Euro im Monat auskommen muss, ist von der Produzentin. Die Vorstellung von der Frau mit den drei Kindern und dem abends stumpf vor sich hin blickenden Mann ist von mir. Heute Morgen gedacht an den Vorsatz, dieser Frau zu geben, was sie braucht, damit sie sich zuballern kann damit, wenn die Kinder schlafen. Erkannt, dass mich das einfach nicht interessiert, mir zu überlegen, was die braucht, wenn sie ihren Fernseher eingeschaltet hat, und wie ich es anstellen könnte, ihr das zu geben. Was nicht heißt, dass mich die Frau nicht interessiert. Wie zum Beweis dessen später auf die Idee gekommen, sie hinein zu nehmen in den Plot. Sie mitspielen zu lassen. Dann kann die Frau auf ihrer Wohnzimmer-Couch bei dem Plot mitmachen über die Frau in dem Film, die ist wie sie. Wenn auch nur als Randfigur einer älteren Schwester von der Cindy, zu der die Cindy kommt, um sich auszuheulen oder unterzuschlüpfen bei ihr für ein paar Tage, wenn sie bei ihrem Love Interest rausgeflogen oder abgehauen ist. Randfigur nur. So ist das eben, wenn man abends nichts anderes weiß oder zu nichts anderem mehr in der Lage ist, als den Fernseher einzuschalten. Was nicht heißt, dass die nicht auch eine eigene Geschichte haben könnte, die Frau mit den drei Kindern. Wenn ich sie zwei oder drei mal besuchen und ihr zuhören würde, dann könnte ich eine Geschichte über sie schreiben, die am Ende viel interessanter wäre als die ausgedachte Geschichte über ihre Schwester. Nur würde sie diese Geschichte nicht interessieren. Weil sie die schon kennt, nur zu gut kennt? – Oh, ich würde bestimmt Aspekte entdecken, die sie überraschen würden. – Sie schüttelt den Kopf. Nein, es würde sie trotzdem nicht interessieren. Weil, wenn sie sich am Abend auf die Couch setzt, dann will sie tagträumen – dann will sie Leuten zugucken, die die gleichen Wünsche, Träume, Sehnsüchte haben wie sie und die das dann für sie machen, sich diese Wünsche zu erfüllen, ihren Traum zu verwirklichen, ans Ziel ihrer Sehnsucht zu kommen. Was im Leben selten passiert, doch in einem TV-Movie – nach Ablauf der dafür vorgesehenen Irrungen und Wirrungen - allemal hinzukriegen ist. Aber nicht von mir. Weil ich mich nicht für ihre Wünsche, Träume, Sehnsüchte interessiere. Weil die das Langweiligste sind an der Frau. Weil alles an ihr spannender und manches an ihr sogar verehrungswürdig ist, nur diese Wünsche, Träume, Sehnsüchte sind ein einziger Kitsch und etwas, wo sie sich selbst so klein macht, wie sie es gar nicht nötig hätte. So klein macht, weil sie da so ist wie so viele andere auch. Weil das Massenware ist, die sie in ihrem Kopf hat. Deshalb würde ich sie viel lieber abbringen von diesem Kitsch. Ihr zeigen, was das für ein Blödsinn ist, wenn man diese massenkonfektionierten Vorstellungen zu Ende lebt. Genau so wie es ein Blödsinn ist, sich diesen Billigurlaub, den jährlichen, vom Mund abzusparen, und dann in einem überfüllten Billigflieger an irgendeinen Ort in der Sonne zu reisen, wo es viel zu heiß ist für die Kinder. Dort vierzehn Tage in einem Billighotel zu wohnen und einem menschenverachtenden Service ausgeliefert zu sein und jeden Tag an einem überfüllten Strand rumzuhängen, umgeben von Leuten mit dem gleichen standardisierten Fernweh wie sie und der gleichen verbissenen Entschlossenheit, das alles jetzt wunderschön und unvergesslich zu finden. Denn es muss reichen für wenigstens ein halbes Jahr, bis sie wieder anfangen kann, sich auf den nächsten Billigurlaub zu freuen. - Heulen könnte ich, zum Gefühlssozialisten könnte ich werden, wenn ich zu lange daran denke, wie die Frau beschissen wird und dabei auch noch mithilft mit ihren Wünschen, Träumen, Sehnsüchten, ihren massenkonfektionierten. – „Beiträge zur Phänomenologie des Massenelends. Teil 1: TV-Movies und Billigurlaube“. – Und was heißt das fürs Plotten morgen? – Weiß ich noch nicht. Wollte nur mal ausprobieren, was passiert, wenn ich die Mutter der drei Kinder, die ich heute Früh, von hier in den Plot versetzt habe, wieder zurück hole. Könnte ich wieder mal machen, jemanden aus dem Plot mit hierher bringen.
Mittwoch, 15. September 2010
Trompete
Bild und Satz. Bild: Das alte Zirkuspferd, das zu tanzen anfängt, wenn es eine Trompete hört. Satz der Produzentin: Bei den Sendern hat man es mit Redakteuren zu tun, die null Kontakt zum Publikum haben und Fernsehen für ihre Freunde und Bekannte machen wollen, für Leute, die gar nicht fernsehen. – Redakteure, die nicht wissen, was es heißt, von 1000 Euro im Monat zu leben. Oder gerade drei Kinder ins Bett gebracht zu haben und jetzt den Fernseher einzuschalten und für zwei Stunden das überall in der Wohnung verstreute Spielzeug, das Chaos in der Küche, die ungeöffneten Briefe mit den Rechnungen und den Mann vergessen zu wollen, der nur noch stumpf vor sich hinguckt, so fertig kommt er jeden Abend von der Arbeit nach Hause. – Um es mit meinen Worten zu sagen: Menschen, die sich zuballern wollen mit Fernsehen und dafür Ballerstoff brauchen. Die zwei Minuten nach Anfang im Bild sein wollen, worum es geht, und wissen wollen, ob sie das interessiert. Ob das was mit ihrem Leben zu tun hat, ihrer Realität und ihren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten. Und dann wollen sie mitgerissen werden. Rasant soll es sein, aber nicht zu schnell, bewegen soll es sie, aber nicht belasten. Und, das hat wieder die Produzentin gesagt, bei unserem ersten Treffen: Lebenshilfe sucht das Publikum im Fernsehen und die soll es auch finden. – So ist das und insofern was für ein Quatsch, Fernsehen für Leute machen zu wollen, die nicht fernsehen. Die lieber ins Theater gehen oder ins Kino, lieber lesen in Büchern oder im Internet oder Liebesbriefe schreiben an die unerreichbare Geliebte auf der anderen Straßenseite, wie ich es getan habe und den Fernseher nur eingeschaltet, wenn Bayern München spielte in der Champions League. – Verstanden. Akzeptiert. Sie haben ja recht. Aber ich sehe nun mal selbst nicht fern. Ich gehöre nicht zu der Gemeinschaft, die sich Abend für Abend um das virtuelle Lagerfeuer versammelt. Kann ich dann trotzdem für das Fernsehpublikum schreiben? Ich habe es schon getan. Ich hatte auch Freude daran. Doch ab irgendwann nicht mehr. Weil ich was machen wollte, was mit mir zu tun hat. Aber dann kann das kein Fernsehen sein. Das endlich mal einsehen! - Eingesehen. Ja. Gestern endgültig. Und dann heute wie ferngesteuert – was gemacht? – Am Trivialstoff rumprobiert. An dem Plotansatz, von dem die Produzentin sagte, der könnte es sein für ihren Auftraggeber. Aus Cinderella Cindy gemacht, und die ist keine mir in ihren Absichten rätselhafte Blondine aus meiner komplizierten Biografie, sondern das ist eine Frau, die auf ihrer Fernbedienung auf der 1 RTL hat und auf der 2 Pro7 und auf der 3 Sat 1 und dann kommt vielleicht noch Vox und RTL2. Mehr braucht die nicht auf ihrer Fernbedienung. Was sie sonst noch braucht, habe ich mir ausgemalt und in einen Lauf beim Schreiben bin ich gekommen dabei. Jetzt noch eine Vorstellung vom dritten Akt, der allerdings immer der schwerste ist, und ich habe was in der Hand für die Produzentin. Am finanziellen Anreiz hat es nicht gelegen, dass ich das gemacht habe. 800 Euro für eine Stoffentwicklung, das ist deutlich weniger als die Hälfte dessen, was es üblicherweise gibt (2500 Euro) und es ist um 200 Euro weniger als der TV-Zuschauer pro Monat hat, von dem die Redakteure beim Sender sich nicht vorstellen können, wie der lebt. Und für dieses Honorar, das ein Erfolgshonorar ist, was heißt, ich kriege es erst, wenn jemand zustimmend genickt hat, für dieses Honorar, das ich vielleicht gar nicht kriege, stelle ich mir jetzt vor, was die Frau mit den drei endlich schlafenden Kindern braucht, um sich zuballern zu können mit der Geschichte von Cindy. Mal sehen, wie es weiter geht, und ob ich morgen die Trompete wieder höre.
Dienstag, 14. September 2010
Produzentin
Die TV-Produzentin hat wie ich heute morgen Bild.de über den Kachelmann-Prozess gelesen. Sie glaubt wie ich, dass Jörg Kachelmann unschuldig ist. Im Sinne der Anklage. Aber irgend etwas muss er der Nebenklägerin angetan haben, irgendetwas, das vor Gericht nicht zur Verhandlung steht, muss passiert sein, dass sie diesen Racheakt gegen ihn durchzieht. Bislang so erfolgreich, dass die Mannheimer Justiz es für gerechtfertigt hielt, ihn monatelang in Untersuchungshaft zu nehmen. Und wenn sie ihren Racheakt weiter so erfolgreich durchzieht, dann wird er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt nicht unter 5 Jahren. Doch gleich wie der Prozess ausgeht, der (übrigens aus Mannheim kommende) Erfolgsproduzent Nico Hofman wird sich die Rechte am Schicksal der Nebenklägerin sichern und einen bewegenden TV-Zweiteiler daraus machen, am liebsten mit der Frau, die aussieht wie die gesichtsoperierte Tochter eines Fleischermeisters, die bald den Laden der Eltern übernehmen wird, aber das wegen übergroßer Beliebtheit beim deutschen Fernsehpublikum nicht nötig hat und bald in einer weiteren Rolle ihres Lebens die Nebenklägerin verkörpern wird. Das deutsche Fernsehpublikum, bei dem Kachelmann so beliebt war, und das ihn mehrheitlich wieder zurück haben möchte als Wettermann, vorausgesetzt, er kann seine Unschuld beweisen, was mir unter den gegebenen Umständen nahezu aussichtslos erscheint. Ende der Abschweifung. Und schon mittendrin im Thema. Liebe, Liebe, Liebe. Wahre Liebe. Vorgetäuschte Liebe. Sehnsucht nach Liebe. Eine Frau, die sich immer die falschen Männer aussucht und jetzt endlich den Richtigen findet. Aber das ist so ein Künstlertyp, der wohnt in einem schönen alten Haus und das soll weg, wenn es nach dem Willen des Vaters der Frau geht, der ein Bauunternehmer ist, und die junge Frau hat zum ersten Mal das Vertrauen ihres Vaters geschenkt bekommen, dass er ihr die Verantwortung für ein Projekt überträgt, das nun aber leider das Projekt ist, weswegen das schöne alte Haus weg muss, in dem der Mann lebt, in den sich die Frau verliebt hat, weil er endlich der Richtige ist. Das ist eine Geschichte, mit der man beim Publikum keinen Fehler machen kann, weil das Publikum das alles irgendwann schon mal gesehen hat und weil das Publikum am liebsten sieht, was es schon kennt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur, ich will so eine Geschichte nicht erzählen. Das versteht die TV-Produzentin. Aber dann soll ich mal sagen, was ich für eine Idee habe, wenn mir ihre nicht gefällt. Ich habe mehrere Ideen. Und wie sich im Gespräch mit der TV-Produzentin bald herausstellt, passen die nicht zusammen, zumindest nicht, wenn es um Verkaufbarkeit geht und streng berücksichtigt wird, was das Publikum will. Sie hat ein Gespür für die Interessen und die Bedürfnisse des Publikums. Sie redet sehr ausführlich, das ist anstrengend, aber in den Passagen, in denen sie über das Publikum redet, wird es mir nie zu lang. Nur, will ich auch für dieses Publikum schreiben? - Viel lieber würde ich über die TV-Produzentin schreiben und darüber, was sie alles vom Publikum weiß und über das Publikum denkt. Am Ende unseres Gesprächs sind aus meinem Plotansatz, den ich ihr vorgestellt habe, zwei Plotansätze geworden: Der eine ist sehr einfach, sie selbst nennt ihn trivial, aber er ist der erfolgversprechende, wenn wir von Privatfernsehen reden, und es ist der Plotansatz für den sie ein geringes, sehr geringes Entwicklungsgeld von einem Sender in der Hand hat. Der andere Plotansatz würde sie selbst auch mehr interessieren, aber für den müssten wir uns erst noch einen Sender suchen. Ich kann es mir aussuchen. Als ich nach dem Gespräch durch den Regen zur U-Bahn gehe, habe ich das Gefühl vor einer Entscheidung zwischen Armut und Elend zu stehen. Ich verschiebe die Entscheidung auf morgen und zurück zu Hause rette ich den Tag, indem ich den Post Erschöpft schreibe.
Erschöpft
Das wertvolle Gespräch mit der TV-Produzentin. Realitätskontakt. Dialog mit jemandem, der sich am Publikum orientiert, ausschließlich am Publikum orientiert. Sie hat lange in exponierter Position bei Fernsehsendern gearbeitet. Sie hatte einmal einen spektakulären Quotenerfolg; ich lasse weg welchen, um ihre Anonymität zu wahren. Sie weiß, was sie tut, wenn sie meine Einfälle befragt und auseinander nimmt, so dass aus meinem Plotansatz am Ende zwei Plotansätze werden: Ein, wie sie selbst sagt, trivialer, der für ihren Auftraggeber in Frage kommt und für den sie Sendergeld zur Entwicklung hat. Und ein Ansatz, der sie persönlich auch mehr interessiert, aber dafür hat sie kein Geld, da müssen wir zusammen einen Geldgeber finden. Ich will das Gespräch mit ihr fortsetzen. Das ist das einzige vorläufige Ergebnis. Alles andere kann ich erst entscheiden, wenn ich weiß, was ich will. Und das weiß ich heute nicht. Mehr Fragen als Antworten und über dem ganzen Tag steht die Notiz von heute Morgen: Was mache ich? Die Phantasie auf die Realität loslassen. Aber geht das nicht besser? - Gemeint: anders. Ganz anders. Als mit dem kleinteiligen Geplotte. – Nach dem dreistündigen Gespräch mit der TV-Produzentin bin ich trotz entspannter Atmosphäre und gleicher Wellenlänge völlig ausgelaugt, weil ich es nicht gewohnt bin, so lange konzentriert zuzuhören. Denn die TV-Produzentin äußert sich sehr ausführlich. Außerdem bin ich völlig ausgehungert und beim Umsteigen auf der Rückfahrt deshalb so wuschig, dass ich einen Moment unsicher bin, ob ich eine Station zu früh ausgestiegen bin, in den U-Bahnwagen zurückgehe und wie ein desorientierter Tourist eine Frau frage: Ist das hier Mehringdamm? – Es ist Mehringdamm. – Ich wechsle auf die andere Seite des U-Bahnhofs zum Bahnsteig Richtung Rathaus Spandau. Als ich in den U-Bahnwagen einsteige, bemerke ich auf der Sitzbank schräg gegenüber dem Eingang eine Frau, die ihre Beine auf die Bank gelegt hat. Ich trete in den Gang, um zu schauen, was das für eine Frau ist. Es ist zu meiner Überraschung die gern gesehene Nachbarin, mit der ich mich so gerne unterhalte. Sie bemüht sich um ein Lächeln, nimmt ihre Beine von der Sitzbank, macht eine einladende Geste, mich neben sie zu setzen, sagt aber gleich: Ich bin völlig fertig. Ich kann nicht reden. – Ich halte die Klappe, antworte ich und erkläre, dass ich in der U-Bahn lieber stehe. Um sie ganz ungestört sein zu lassen, trete ich aus ihrem Blickfeld und stelle mich neben die mittlere Haltestange auf der Plattform. Von dort aus beobachte ich sie aus den Augenwinkeln. Sie trägt zum kurzen Rock hellgraue Strümpfe, die durchsichtig wären, wenn nicht ein blassrot, -blau, -grünes Blümchenmuster auf ihnen ausgestreut wäre, und an den Füßen dunkelbraune Ballerinas, doch es sind eigentlich keine Ballerinas, es sind diese klassischen Mädchenschuhe mit einem Riemchen über den Spann. Auf ihrem Schoss liegt ein Ordner mit rotem Plastikeinband. Darauf ein neues Taschenbuch, Titel nach unten. Ich wüsste gerne, was das für ein Buch ist. Ich wüsste auch gerne, warum sie so erschöpft ist, dass es schon weh zu tun scheint. Ich weiß, dass sie als eine Art Verhaltenstrainerin arbeitet, mit schwierigen Jugendlichen. Mehr weiß ich nicht. Eisenacherstraße steigen wir beide aus. Sie geht wort- und blicklos an mir vorbei. Auf der Rolltreppe bleibe ich mehrere Stufen hinter ihr. Und einer der Gründe, warum ich mich entschließe, einen Umweg zur Konditorei zu machen, ist, dass es mir bizarr vorkommt, jetzt den ganzen gemeinsamen Nachhauseweg mit verlangsamten Schritten hinter ihr her zu gehen, um sie nicht überholen zu müssen. - Was wird sie machen? Zu Hause wird sie sich hinlegen und schlafen oder wenn sie zu aufgewühlt dazu ist, sich wenigstens ausruhen. Danach wird sie mit ihrem schönen Hund durch den Regen gehen und dann wird sie bestimmt auch wieder lachen oder wenigstens ohne Mühe lächeln können. Gleich, was vorgefallen ist bei ihrer Arbeit, am Ende des Tages wird sie wissen, was sie getan hat. Während ich mich den Rest des Tages mit meinen Zweifeln beschäftigen werde und morgen, wenn es gut geht, weiß, was ich tun werde.
Montag, 13. September 2010
Melanie
Zum ersten Mal in der neuen Wohnung Michaels in der Husemannstraße. Hier würde ich sofort einziehen. Die viele (Original) Kunst an den Wänden würde mich nicht stören, obwohl ich es bei mir zu Hause so halte: Da ich mir keinen Pollock leisten kann, lieber keine Bilder an der Wand. Ich frage nach den Preisen der einzelnen Bilder. 1500, 2500, 5000, 10 000 Euro. In der Diele entdecke ich einen Originalabzug von einem Foto, das ich von einer älteren Ausgabe der Zeitschrift Dummy kenne: eine israelische Soldatin sitzt vor ihrer Waffe und schaut mit nachdenklicher/verträumter Miene in die Ferne (girl with far away eyes.). Wie oft habe ich dieses Foto betrachtet! Noch lange, nachdem ich die Zeitschrift gelesen hatte, habe ich sie herum liegen lassen und immer wieder das Titelfoto angeschaut. Keine Ahnung warum. Irgendwas ist an dem Foto. Es hat ein Geheimnis. - Auf dem Tisch vor der Soldatin mit der Waffe liegt eine Dose mit Waffenreinigungsspray, ein Schraubenzieher und Reinigungswerkzeug. – Jetzt, da ich das Foto in Originalgröße (134 x 105 cm) sehe, fällt mir auf, dass die junge Frau saubere Hände hat. Dass sie lange, gefeilte, lackierte Fingernägel hat, habe ich immer schon bemerkt; das und den Kontrast zu der Waffe, auf der ihre manikürten Hände liegen. Aber jetzt bemerke ich zum ersten Mal, wie sauber die Hände sind, und dass sie eigentlich schmutzig sein müssten. – Wenn wir so eine Waffe zerlegt und gereinigt hätten, dann wären wir hinterher eingesaut bis zu den Ellbogen, sage ich zu Michael. Er meint, vielleicht hat sie sich für das Foto vorher noch rasch die Hände gewaschen. - Dann ist es aber keine Momentaufnahme, sage ich. Dann hat sie sich extra für das Foto so hingesetzt. Dann hat sie extra für das Foto so ein Gesicht gemacht. Dann ist es gestellt. Das kann aber eigentlich nicht sein. Weil das schafft sie nicht, auf "Achtung! Und jetzt bitte!" so zu gucken und dieses Far-away-eyes-Gesicht aufzusetzen, das dem Foto sein Geheimnis gibt. Und das Geheimnis ist, was sie gerade denkt. - Experimentelles Gequatsche, das zu nichts führt. – Das Mädchen heißt übrigens Melanie, sagt Michael. Das ist auch der Titel des Fotos. Es gehört zu einer Serie mit dem Titel Women of the Israel Defense Forces, die der iranisch-amerikanische Fotograf Ashkan Sahihi im Herbst 2003 aufgenommen hat. – Zu Hause krame ich das alte Dummy-Heft heraus, dessen Titelbild ich so oft angeguckt habe wegen seines Geheimnisses. Im Heft weitere Fotos aus Ashkan Sahihis Serie. Titel der Bildstrecke: Die Waffen der Frauen. - Müsste es nicht eigentlich heißen: Die Waffen der Mädchen? Denn die Rekrutinnen, die wir sehen, sind alle noch im Teenageralter und ihre Ausbilderin, die Offizierin, würde ihre gute Figur genau so gut als Anführerin einer Cheerleadergruppe machen. Cheerleader-haft auch die Stimmung in den Gruppenaufnahmen. Immer im Gegensatz zum streng Militärischen der Tarnkleidung und der lässig, Lauf nach unten, umgehängten Sturmgewehre. - Ich betrachte die Hände der Mädchen. So weit das zu erkennen ist, haben sie alle lange, gefeilte, lackierte Fingernägel. Wie Melanie. Und wo ist die? Auf einem Foto umarmt sie ein anderes Mädchen von hinten und schaut, was das andere Mädchen in der Hand hat; vielleicht einen Käfer oder eine Blume. In einer zweiten Situation, die die Mädchen in einem Raum versammelt zeigt, steht Melanie im Hintergrund neben einem Rucksack mit einem Feldtelefon. Sie hält den Telefonhörer ans Ohr und schaut aus dem Bild heraus zum Betrachter, ohne direkt in die Kamera zu gucken – mit dem geschulten Blick eines Models. Dieses Foto zeigt es: Sie ist ein Model! Und wenn man es erst mal weiß, dann sieht man es auch. Sie passt nicht in die Gruppe der Rekrutinnen. Sie ist es gewohnt, fotografiert zu werden. Und sie ist auch kein Model, das gerade seinen Militärdienst ableistet. Ihr Gesicht ist gepflegter als die Gesichter der anderen Mädchen. Sie lebt nicht unter den gleichen Bedingungen wie sie. – Das Foto von ihr mit der Waffe und dem Geheimnis ist gestellt. Das Geheimnis des Fotos ist, dass es gestellt ist. Es erzählt nichts von den israelischen Mädchen, die bei der IDF ihren Militärdienst ableisten, es erzählt von dem, was der Fotograf Ashkan Sahihi sich dazu denkt. Später noch, und das ist das einzig Interessante an dieser, ich gebe es zu, langweiligen Geschichte: Meine Feststellung, dass Melanie schmutzige Finger haben müsste, war Unsinn. Denn was wir sehen, kann schließlich auch der Moment sein, bevor sie mit dem Reinigen der Waffe beginnt. Der Anfangsverdacht war also falsch. Doch der Verdacht selbst hat sich bestätigt. Und es ist wohl so, dass ich, wie der Fotograf, fasziniert bin von Mädchen mit Schusswaffen und die gleichen vagen romantischen Vorstellungen mit ihnen verbinde wie er.
Sonntag, 12. September 2010
Tot
Claude Chabrol ist tot. Und ich improvisiere, weil der Text für heute nicht fertig geworden ist: girl with far away eyes und die manikürten Hände liegen auf einer Maschinenpistole, die die junge Soldatin gerade gereinigt hat oder gleich reinigen wird. Wenn es nicht gestellt ist das Foto (Originalabzug bei Michael gesehen). Und warum soll ich dann darüber schreiben? Eben darüber, dass es gestellt ist? Vielleicht in den nächsten Tagen. – Jetzt: Schon wieder! Dieses Mal Ralph. Du bist aber dünn geworden! Was machst Du denn? Ich werde immer dicker. Und Du wirst immer dünner. - Ich antworte: Das liegt daran, dass ich sterbenskrank bin. – Er sieht mich entsetzt an. Ich will ihm das nicht antun und gebe eine Erklärung ab, mit der ich die Harmlosigkeit meiner Dünnheit plausibel mache, will am Ende jedoch nicht ausschließen, dass ich mich auch irren könnte: Ich freue mich, dass ich so dünn bin, tatsächlich aber bin ich todkrank. Tücken einer positiven Lebenseinstellung! - Wir verabschieden uns lachend. Im Weitergehen male ich mir aus, wie ich todkrank bin und es einfach nicht mitkriege wegen meiner positiven Lebenseinstellung. Wie ich dann eines Morgens aufwache und mich etwas schwach fühle und deshalb entscheide, heute lieber nicht schwimmen zu gehen, sondern mich noch mal umzudrehen und noch eine Stunde weiter zu schlafen. Im Halbschlaf habe ich dann eine Nahtoderfahrung, bei der ich denke, das ist aber mal ein abgefahrener Traum. Den muss ich unbedingt nach dem Aufwachen aufschreiben. Doch ich wache nicht mehr auf, denn jetzt bin ich tot. - Inzwischen bin ich bei Reichelt und der junge Mann im weißen Kittel mit dem Logo auf der Brusttasche will nicht, dass ich meinen Einkaufskorb auf die Waren stelle. Mein inneres Kind, das ein von mir antiautoritär erzogenes Kind ist, kann es nicht fassen, was es gerade gehört hat. Ich sehe die Möglichkeit, den jungen Mann so weit zu bringen, dass er sich vollends zum Deppen macht und mich aus dem Supermarkt wirft. Andererseits will ich jetzt schnell einkaufen. Mein Auftritt ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Wir verbleiben so, dass ich nicht mehr mit ihm reden will und er soll nie wieder mit mir reden. Das genügt mir aber nicht. Als ich die Geschäftsführerin erblicke. gehe ich zu ihr hin und sage, dass ich mich nicht über den jungen Mann beim Obst und Gemüse beschweren will, aber darauf hinweisen möchte, dass er bei einem Sondereinsatzkommando der Polizei oder bei einem besonders fiesen Ordnungsdienst besser aufgehoben wäre als in dem freundlichen Reichelt-Supermarkt. – In diesem Moment kommt der junge Mann “wie gerufen” dazu. Ich erkläre ihm, was mein Problem mit ihm ist. Ich sage: Ich bin ja schon etwas älter als Sie. – Er unterbricht mich: Das spielt für mich überhaupt keine Rolle, wie alt Sie sind. – Ich gehe darüber hinweg und sage: Ich habe noch die Autobahnfahrten durch die DDR erlebt. Und die jungen Männer an den Grenzübergängen, die hatten genau den gleichen Ton wie Sie. – Er: Ich habe “bitte” gesagt, als ich Sie aufgefordert habe, den Korb von den Waren zu nehmen. – Ich: Der Korb war leer und ganz leicht. Die Waren waren in Zellophan verpackte harte Nüsse. Und die Volkspolizisten haben, wenn sie einen guten Tag hatten, auch bitte gesagt. - Die Geschäftsführerin hindert den jungen Mitarbeiter daran, mir zu widersprechen. Das ist mir lieber so. Aber es ist unbefriedigend. Später beruhige ich mich mit dem Gedanken daran, dass ich ihn irgendwann auf den Vorfall ansprechen werde und dass das vielleicht der Beginn einer lebenslangen Supermarkt-Freundschaft ist. – Glaube ich das wirklich? – Nein. Der Ton war zu übel. - Sonntag. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die Goltzstraße und schaue rüber zum Café M, ob die Frau mit dem lustigen Pferdeschwanz da ist, die sonntags da arbeitet und mit der ich mich von Mal zu Mal besser verstanden habe, seit ich sie wegen ihrer äffchenartigen Gefallsucht einmal beleidigt und mich danach dafür entschuldigt habe. Sie ist nicht da und ich kann gerade noch rechtzeitig ausweichen vor der hochgeklappten Hecktür des Mercedes Vans, der mit der Kühlerhaube in Richtung Bürgersteig parkt. So parkt, dass die hochgeklappte Hecktür genau die richtige Stellung und auch Höhe hat, um mir den Kopf abzutrennen oder mich wenigstens so am Hals zu treffen, dass es auch gereicht hätte. Erinnerung an die kuriosen tödlichen Unglücksfälle am Beginn jeder Episode von Six Feet Under. Beschluss: Bevor ich beim Fahrradfahren nach 9 Uhr oder 3 Uhr gucke, vorher immer erst noch mal nach 12 Uhr schauen, ob der Weg frei ist. Gefallen an der militärischen Ausdrucksweise; links, rechts, geradeaus hätte es auch getan. Women of the Israel Defense Forces heißt die Serie des iranisch-amerikanischen Fotografen Ashkan Sahihi, zu der das Foto vom Mädchen mit den far away eyes gehört. Wenn er das Foto gestellt hat, was war seine Intention? – Sentimentalisierung des Militärischen? Propagandistisches Gemenschele? – Der Dialog mit Michael gegen Ende des gemeinsam verbrachten Abends fällt mir ein. Seine beste Freundin, die er schon seit der Kindheit kennt: Sharon, die ich auch so schätze, wegen ihrer Klugheit und ihrer großen Klappe. Michaels einziges Problem mit Sharon: ihre politischen Ansichten. – Und wie sind die? – Anti-israelisch und philo-palästinensisch. – Ach ja, sage ich überrascht und füge hinzu: Philo-palästinensisch ist allerdings etwas übertrieben. – Jüdischer Selbsthass ist das, sagt er. - Viele kluge Juden sind anti-zionistisch, sage ich. - Er sagt was gegen Anti-Zionismus, woran ich mich nicht mehr erinnere. - Straße des 17. Juni. Hauptbahnhof. Invalidenstraße. Rosenthalerstraße. Zum Flohmarkt am Mauerpark. Ich lasse mal weg, was ich da wollte und warum ich meinen Plan dann aufgegeben habe. Nur: Lange nicht mehr so eine Menge interessanter Gesichter gesehen. Ganz andere Art von Menschen als in Schöneberg. Später Erinnerung an Berichterstattung über Rainald Goetz, der einen Bildband mit Fotos vorgestellt hat vergangene Woche im Suhrkamp Haus in der Pappelallee. Auf einem Stuhl soll er dabei gestanden haben, immer wieder runter gesprungen vom Stuhl und dann wieder raufgestiegen soll er sein und so den Kasper gemacht haben. Das wurde in der Berichterstattung so nicht ausgesprochen, war aber herauszulesen in der taz genau so wie in der Welt. In der Manier von Harald Schmidts Einleitungsconferencen am Beginn seiner Sendung habe er das Publikum unterhalten. Das sagt doch schon alles. Wenn der mutmaßlich wichtigste deutsche Autor wie ein anstrengendes Kind sein Vorbild kopiert, dann weiß ich nicht, was schlimmer ist - dass er das tut, oder dass er sich einen Harald Schmidt als Vorbild gewählt hat. - Wie komme ich darauf? Während er auf dem Stuhl stand oder gerade am Runtersteigen oder Hochsteigen war, soll er gesagt haben, dass es sich in Mitte viel besser aushalten lässt als im West-Teil der Stadt. Dass die Menschen im Westen alle so eine Geducktheit haben. Während am Rosenthaler Platz zum Beispiel, da sei es schön, da könne er gut denken oder was er sonst alles gerne macht. Das fällt mir ein auf dem Rückweg. Am Hauptbahnhof singe ich noch laut (ein Lied von Sophie Hunger). Am Nollendorfplatz befällt mich die Sonntagsnachmittags-Melancholie, von der ich schon glaubte, dass ich sie heute nicht haben würde. Und als ich die Eisenacherstraße runter rolle, kann ich mir kaum mehr vorstellen, dass ich eine halbe Stunde vorher noch ausgelassen war. – Soll ich in einen anderen Stadtteil ziehen? In den Osten? Wo es keine Geducktheit gibt und wo es schön ist - und wo die Leute mich nicht anders kennen werden als dünn und mich nicht andauernd in Angst und Schrecken versetzen, indem sie mich besorgt auf meine Dünnheit ansprechen? Wo mich vielleicht überhaupt niemand mehr anspricht, weil mich niemand kennt? – Auch nicht gut.
Samstag, 11. September 2010
Notiz
Der Tess klarmachen: Dass die Cinderella-Phantasie in der Plotentwicklung keine Phantasie über sie ist, sondern über die blonde Frau bei der Beerdigung in Kreuzberg, und: dass die Begegnung mit ihr, der Tess, das Wunderbare war, was mich aus dem Zynismus heraus geholt hat, dem ich verfallen war nach der Begegnung mit der blonden Frau bei der Beerdigung. – Dass dieses Wunderbare der Auslöser für meinen Wunderglauben war, den ich so lange hatte an die Tess. Und dass es mir deshalb so schwer fällt, ihn ganz aufzugeben. - Dann noch: Dass ich so gerne die Geschichte mit ihr weiter erzählen würde im Blog. Aber dass ich nicht mehr der Typ sein will, der von diesem Gegenüber-Szenario zwischen den Dachwohnungen erzählt und von einer Frau, die bei ihm eingehackt ist und alles mitkriegt, was er treibt auf seinem Laptop, die andererseits ihm aber keine Chance mehr gibt zu einer “realen” Begegnung. Auch deshalb dieser Typ nicht mehr sein will, weil jeder, der mich nicht persönlich kennt, bei einer solchen Erzählung mich für einen Spinner halten muss. Und wenn ich in dieser Hinsicht für einen Spinner gehalten werden muss, dann muss ich für einen Spinner gehalten werden in meinem ganzen Blog. – Wieder so ein Fall, wo der Blog ins Leben rein wirkt, indem für den Blog etwas ausgeschlossen wird, das auch für das Leben nicht gut ist.
Freitag, 10. September 2010
Beileid
Finsterer Blick der Witwe. Kein Gruß. Nicht mal ein stummer. Ist sie beleidigt? Vergrätzt? Grüße ich jetzt auch nicht? Zwei Schritte weiter, drehe ich mich um. Hey! Lucia! Gehe auf sie zu. Bleibe vor ihr stehen, mit steifem Kreuz wie der alte Rittmeister, bei dem ich als Student zur Untermiete gewohnt habe. Und wie er das gemacht hätte, sage ich zu ihr: Mein Beileid. Und für Dich auch, sage ich zu ihrem Sohn, der sie begleitet. Lucia nickt. Der Sohn nickt auch. Kein Gespräch. Weiter. In Eile. Denn ich muss noch zu Edeka und dann los nach Prenzlauer Berg, Treffen mit Michael in der Husemannstraße. Jetzt merke ich, dass ich mich mal wieder wie auf Schienen bewegt habe. Ich habe Lucia nicht die Hand gegeben, als ich ihr mein Beileid aussprach. Oder doch? Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall viel zu schnell war ich. - Hinterher: Ihr hat mein Text über Hotte nicht gefallen. Sie hat ihn gehasst, meinen Text! Ich denke nicht, das tut mir leid. Aber es bricht mir die Stimmung weg deswegen. Ihr Blick. Das Verwundete in ihrem Blick. Was könnte schlimm für sie gewesen sein an dem, was ich geschrieben habe? – Zwei Bemerkungen fallen mir ein: Über die Folgen der Prostata-Operation und was das für einen Mann bedeutet, wie jeder weiß. Über die schwierige Phase des Sohns. War es das? Beides? Was ist daran schlimm? – Es ist nicht so wie ein Nachruf sein soll. Doch so schreibe ich nun mal nicht. Dann hätte ich lieber gar nicht schreiben sollen über den Tod von Hotte? – Übrigens: Dass sie in der Klinik bei ihm noch einen Luftröhrenschnitt gemacht haben, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte, das habe ich vergessen. Anderes habe ich weggelassen mit Bedacht. Zum Beispiel den Namen des Sohnes. Weil ich den nicht näher kenne. Und aus Rücksichtnahme – weil er die Schwierigkeiten, in denen er war, inzwischen längst überwunden hat. Diskretion. Wurde die bemerkt? - Wahrscheinlich nicht. – Was ich mich immer wieder frage: Wäre es nicht besser, wenn ich nur über mich schreiben würde? Ist schließlich nicht der erste böse, „verwundete“ Blick, der mir begegnet. Und die Mails des „Er“ sind seit dem Text vom Montag auch auffallend knapp und kühl. – Ich werde mit Lucia reden, wenn ich sie wieder sehe. Ich werde sie darauf ansprechen und fragen, was es war, was sie verletzt oder vergrätzt hat. Am Ende ist es was ganz anderes gewesen, als ich vermute. Vielleicht hat sie mich gesehen und in dem Moment gedacht: Mein Mann ist tot und der Kerl da, der läuft immer noch lebendig rum und macht sich wichtig. – Vielleicht war es das. Das würde ich verstehen, wenn sie das gedacht hätte und deshalb so finster guckte, als sie mich sah. Dann war es vielleicht auch gar nicht finster, sondern einfach nur verbittert und traurig, wie sie geguckt hat, als sie mit ihrem Sohn an mir vorbei ging.
Donnerstag, 9. September 2010
Müll
Verschlusskappe? Schutzkappe? Kappe des USB-Sticks. Sie ist weg. Quadratisch. Eineinhalb Zentimeter Kantenlänge. Halber Zentimeter Durchmesser. Dunkelblau. Transparent. Verschwunden. Muss doch irgendwo sein. Das gibt es doch nicht. Die kann doch nur vom Tisch gefallen sein oder von dem Musikanlage-Gestell, das ich als Stehpult nutze, um daran am Sony-Laptop zu arbeiten. USB-Stick täglich im Einsatz für Datentransfer zwischen Sony- und Samsung-Laptop, das auf dem Tisch steht. Fläche von sechs Quadratmetern. Da muss sie irgendwo sein, die Kappe. Ist sie nicht. Verlust wäre blöd, aber verkraftbar. Dennoch: Ich hasse ungelöste Rätsel und würde am liebsten nicht eher aufgeben, als bis ich sie gefunden habe. Doch wo noch suchen? Deshalb endlich anfangen mit der anderen Suche. Plotentwicklung. Am Stehpult auf dem Sony. Cinderella, Carl, Helene. Rein kommen. Weiter mit Carl. Was habe ich? Kritik der Vorstellungen von gestern. Nein, der hat nichts mit Doktorantinnen. Aber er hat ein Überangebot von ihnen, der braucht keine Cinderella. – Rauchen an der offenen Balkontür. Wo könnte díe Kappe denn sonst noch sein? - Durchsuchen der Hosentaschen. Hose von jetzt. Hose von gestern. – Weiter mit Carl. Weiter mit der Enttäuschung von Helene über ihn und wie er redet über die Mutter von Helene. Banal und langweilig war sie, sagt er. - Rauchen. - Weiter. Wir glauben nicht an die Liebe, bevor wir sie nicht erlebt haben. Hier sieht es nicht nach Liebe aus. Das wird nichts. Carl hat es geschafft, er hat die Annäherung von Cinderella abgewehrt. Maximaler Realismus. Höchster Schwierigkeitsgrad, den Plot in Gang zu halten. Denn das war es erst mal mit Carl und Cinderella. - Rauchen. Und wenn ich die Kappe versehentlich weggeworfen habe? Wenn sie irgendwie in den Aschenbecher geraten ist. Nein. Aber wie, wenn ich sie versehentlich in die Schokoladen-Verpackung geknüllt habe und mit dem Papier weggeworfen habe? Schokolade gegessen am Tisch vorgestern Abend. War die Kappe nicht gestern noch da? Weiß ich nicht? Nachher den Abfall durchsuchen. Kann es kaum erwarten. Jetzt erst weiter mit Plot. Es muss was passieren, das Cinderella festhält. Etwas, das nichts mit dem Liebesthema zu tun hat. Das kann nur von Helene kommen. Um sie geht es doch auch. Drama des plumpen dicken hässlichen Mädchens. Was macht sie? Erste Vorstellungen davon. Weiter morgen. Jetzt der Müll! Blauer Platstikabfalleimer für den “gelben” Müll. Ich widerstehe der Idee aufzuzählen, was ich alles aus der halb vollen Mülltüte in der Tonne in eine leere Mülltüte räume – unter besonderer Berücksichtigung der zusammengeknüllten Schokoladenpapierchen, die ich einzeln auffalte und mit übertriebener Sorgfalt ausschüttle. Ergebnislos. Trotzdem weiter “guten Mutes”. Ich bin überzeugt, sie hier zu finden, die gesuchte Kappe. Überzeugt, auch, dass ich sie erst finden werde ganz zum Schluss auf dem Boden der Tüte, wenn ich alles – da ist sie! Stinkend. Unbeschädigt. Erfolgserlebnis! - Analogie des Vorgangs zum Plotten? Oder warum erzähle ich das? – Wegen des Gedankensprungs. Weg von: Das gibt es doch nicht und immer an den gleichen Stellen rumsuchen. Auf die Möglichkeit kommen, die es außerdem noch gibt. Die Lösung, die sich nicht anbietet. Wie es auch sein könnte und dann tatsächlich ist. - Wie diesen Gedankensprung auslösen? – Es geht nicht ohne das stumpfe, dumpfe Rumsuchen an den falschen Stellen vorher. Tag für Tag.
Mittwoch, 8. September 2010
Kapitalismus
Falls ich gestern jemanden in Schrecken versetzt haben sollte: Krebs durch rotes Fleisch? – Nicht von einem Mal und auch nicht von zweimal, aber - trotzdem aufpassen! Nachzulesen hier und hier. Und sonst rauche ich, als hätte ich zwei Leben und gestern hat mich Roland im Vorübergehen gefragt, ob ich eigentlich inzwischen mal eine Darmspiegelung hätte machen lassen wegen meiner Dünnheit. Naturgemäß nicht nur um die Hüften, sondern auch im Gesicht. Deshalb auch die vermehrte Faltenbildung. - Soll ich mich jetzt vielleicht fett fressen, damit die Falten weggehen? raunze ich zurück. Da spritze ich lieber Botox. - Das habe ich aber nur gesagt wegen der Stärke des Satzes. In Wirklichkeit wüsste ich gar nicht, für wen ich das machen sollte. Denn ich sehe mich im Normalfall nur beim Rasieren und da nicht so genau hin. Ausnahmefall das mit den Fotos. Erste Ergebnisse des letzten “Shootings” bei Peter, mit der Spiegelreflexkamera und semiprofessioneller Ausleuchtung, vorhin in der Mail. Habe sie lieber nicht geöffnet, um den Bewußtseins-strom nicht in eine unerwünschte Richtung driften zu lassen, da ich eigentlich schreiben will über die Begegnung mit dem verschmitzten Herrn heute Morgen im Hallenbad, das nach vier Wochen Pause endlich wieder seinen Betrieb aufgenommen hat. Hurra! – Das mit dem verschmitzten Herrn ist eine Fortsetzung von Wirtschaftsteil von gestern: Der verschmitzte Herr hat nämlich, wie er mir heute morgen erzählte, mal eine Strickerei gehabt. 35 Beschäftigte. 2002 hat er pleite gemacht, weil die Pullover, die sie herstellten, nicht mehr zu verkaufen waren. – Wegen des globalen Wettbewerbs? frage ich. – Nein, die Damen, die seine Pullover kauften und sie in Cafés trugen, in denen sie den anderen Damen ihren Schmuck vorführten (er streicht verdeutlichend über seine Unterarme, wo die Damen die güldenen Armreife trugen), diese Damen gingen auf einmal nicht mehr in Cafés, sondern haben ihr Geld von nun an lieber für Reisen ausgegeben und tragen bei diesen Reisen irgendwelches billige Zeug, weil sie kein Geld mehr übrig haben für höherwertige Kleidung und weil sie mit ihrer Anwesenheit an Fernreisezielen schon genug höhere Lebensart beweisen. - Von solchen Geschichten kann ich gar nicht genug kriegen. Eine einzige Enttäuschung hingegen der Essay von Robert Misk ("… so why don´t you kill me? - Kapitalismus und Pop-Moral") ín der aktuellen Spex, den ich vorhin in meiner Mittagspause gelesen habe. Erst sammelt er reichlich Zitate und Belege, um das (schlecht) Anarchische des Kapitalismus zu beschreiben, das Planlose, Unbändige, raubtierartig Wilde der geballten Egoismen, das dann auch schon mal so an unseren Bedürfnissen vorbei schrammt, dass es weh tut. In einem Mittelteil beschwört er darauf eine Wechselwirkung von Kapitalismus und Pop-Kultur, die unter anderem darin besteht, dass Freaks auch Konsumenten sind und dass man mit der Energie, die Mick Jagger bei einem Konzertauftritt loslässt, leicht eine weltweite Marken-Kampagne für Kukident Haftcreme durchziehen könnte. Nur leider ist der Kapitalismus dann im September 2008 zusammengebrochen und konnte nur mit Staatsmitteln gerettet werden. Damit ist die dritte Entwicklungsphase des Kapitalismus zu Ende, eine neue, die vierte Phase wird folgen. Wie wird die, wie soll die aussehen? Wie hätten wir die gerne? fragt er, als könnten Pop-Feuilletonisten wie er und Leser wie ich uns das aussuchen; auch wenn die Wahl nicht ganz einfach ist. Denn: Im Grunde wirft die Frage nach dem Zusammenhang von Kapitalismus und popkulturellen Ethiken die Frage auf, wie wir leben wollen. Niemand, der seine sieben Sinne beisammen hat, will in einer Welt ohne Dynamik und Intensität leben, aber wie baut man sie so, dass niemand unter die Räder kommt? - Es schließen sich weitere Fragen dieses schweren Kalibers an und ich denke, jetzt bin ich aber mal gespannt, was kommt, und es wird immer spannender, denn gleich ist das Ende des Textes erreicht, ich sehe es schon, das Ende des Textes, und denke, viel Platz hat er jetzt aber nicht mehr, um das noch hinzukriegen. Trotzdem noch ein Fragezeichen und noch eins und dann endlich der Satz ohne Fragezeichen. Nur ein Satz: Es wäre schön, wenn wir für den vierten Kapitalismus demnächst eine paar Antworten auf diese Fragen hätten. - Kein Scheiß! So steht das da. Das ist seine Antwort. Das ist sein Schlusssatz. Ist es das, was von der Sozialdemokratie übrig geblieben ist? Oder ist das einfach nur Faulheit? - Nachdem der Laden des verschmitzten Herrn zusammengebrochen war, hat er einen Taxi-Führerschein gemacht und sich von dem Geld, was er aus der Pleite retten konnte, ein Taxi gekauft. Inzwischen ist er 66. Seit einem Jahr bezieht er eine Rente, fährt aber immer noch Taxi. Im Schnitt sechs Stunden am Tag. Hinterher hatte ich das Gefühl, dass er es richtig darauf angelegt hat, mir das mit der Pleite und dem Taxifahren zu erzählen, und dass er stolz auf diese Geschichte ist. - In der aktuellen Spex (#328) gibt es auch lesenswerte Texte, zum Beispiel das Interview mit René Pollesch. Mehr dazu demnächst und dann auch wieder ganz viel über mich. - Auf der beiliegenden CD zur Spex hat mir nur ein Stück gefallen: Stella, Nobody Can Do Me No Harm. Hier ist es.
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