Warum arbeitet Oguzhan nicht mehr im Laden in der Akazienstraße 2? – Am Freitagnachmittag steht ein Mann da, wo sonst Oguzhan steht, ein Mann, den ich noch nie gesehen habe. Er hält mir seine Hand hin zur Begrüßung, nennt seinen Namen. Ich sage ihm meinen, vergesse gleich wieder seinen und frage ihn aufgeregt: Wo ist Oguzhan? – Arbeitet jetzt im Kaiser Kiosk. – Warum? – Kann der neue Mann mir nicht sagen. – Und wer bist du? – Kein Bruder, kein Cousin. Aber schon lange mit der Familie verbunden. Und dann sagt er noch, dass er jetzt mal Schwung in den Laden bringen will. Das wird mich beschäftigen. Schwung in den Laden bringen. Wenn der neue Mann Schwung in den Laden bringen soll, kann das nur heißen, dass sie denken, dass bei Oguzhan kein oder zu wenig Schwung im Laden war. Und dazu kann ich nur sagen: Wie soll er Schwung machen, wenn er sechs Tage in der Woche jeden Tag mehr als 12 Stunden in dem Laden steht und seit Wochen vergeblich darauf wartet, dass endlich Gülcan vom Kaiser Kiosk in die Akazien 2 kommt, um ihn zu entlasten. Das sagt mir mein Beschützerreflex und ich sage es am nächsten Tag Gülcan, die am Samstag – ist es zu fassen? – im Laden Akazien 2 steht und schon ihre Tasche bereitgelegt hat, denn gleich kommt der neue Mann, um sie abzulösen. Sie arbeitet jetzt also wieder hier und plötzlich geht, was vorher nicht ging: Zwei-Schichten-Betrieb mit Personalwechsel um 15 Uhr. – Gülcan sagt, dass sie dazu nichts sagen kann. Gülcan kann überhaupt sehr wenig sagen. Dafür muss ich Verständnis haben. Aber worüber soll ich mit ihr reden, wenn sie nichts sagen kann? Ich kann sie nicht einmal fragen, ob sie damit einverstanden ist, dass ich das Foto von ihr in meinen Blog stelle. Denn auf dem Foto ist sie nicht zu erkennen. Zu erkennen ist nur, dass sie nicht fotografiert werden will, und dafür brauche ich keine Erlaubnis von ihr, um das zu zeigen.
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Mit Serhat reden. Der arbeitet sonntags ab 15 Uhr im Kaiser Kiosk und freut sich mich zu sehen, weil er noch nicht weiß, was ich von ihm will. Eine Packung rote Indianerzigaretten bitte und dann habe ich noch eine Frage. – Oguzhan? Der arbeitet jetzt hier, vormittags und nachts, antwortet Serhat. – Aber warum? Wir Kunden in der Akazienstraße haben uns an ihn gewöhnt. Wir haben gerne mit ihm zu tun. – Der neue Mann ist auch nett. Und den Oguzhan brauche ich hier. – Das sagt er mit der für ihn typischen Intensität, so dass es klingt wie: ich brauche ihn unbedingt hier; ohne ihn komme ich hier nicht klar. Und er spricht das zh in Oguzhan [ˈoːzaːn] betont korrekt, also auf eine Art türkisch weich aus, wie ich das mit meiner deutschen Zunge nicht hinkriege. Ich versuche es erst gar nicht und erzähle ihm, was der neue Mann über den Schwung gesagt hat. Dabei wiederhole ich, worüber ich mich schon bei Gülcan aufgeregt habe: Wie soll Oguzhan Schwung machen, wenn er vom Dauereinsatz in der Akazien 2 schon ganz mürbe ist? – Serhat hat mir eine rote Packung American Spirit gegeben, dafür einen Fünf-Euro-Schein von mir bekommen und weiß nun nicht, was ich noch von ihm will. Er erklärt mir noch einmal, dass er Oguzhan im Kaiser Kiosk braucht und fügt hinzu, dass Oguzhan sich hier erholen kann, wenn er so mürbe ist, wie ich behaupte. – Ich habe auf einmal das Gefühl, dass ich mich in etwas einmische, was mich nichts angeht, kann aber nicht aufhören und frage: Was soll das überhaupt für ein Schwung sein, der nun in den Laden gebracht wird? Ich setze dazu an, die Frage zu erklären: Was kann man mehr machen, als freundlich sein zu den Kunden und freundlicher als Oguzhan es war, kann man nicht sein. Doch da stehen auf einmal fünf Leute an und die wollen von Serhat freundlich bedient werden. Darauf muss er sich jetzt konzentrieren. Das verstehe ich und bemühe mich, nichts dabei zu finden, dass er keine Zeit mehr hat, um Tschüss zu sagen.
Um mit Oguzhan selbst zu reden, müsste ich vormittags ins Kaiser Kiosk gehen. Das ist nicht die Zeit, zu der ich Besorgungen mache. Und dann regnet es am Montag auch noch. In der Erwartung, Serhat dort anzutreffen, und weil ich keine Lust auf den neuen Mann in der Akazien 2 habe, gehe ich gegen 16 Uhr ins Kaiser Kiosk, und da steht Oguzhan und zählt Geld. Er nennt dem mir unbekannten jungen Mann, der mich bedient, meine Zigarettenmarke. Ich spreche ihn auf seine Versetzung an. Er tut so, als ob es ihm gerade recht wäre, dass er ab jetzt wieder im Kaiser Kiosk arbeitet. Allerdings könnte es auch sein, dass er nicht nur so tut, sondern dass es ihm wirklich recht ist. Als ich das Gespräch mit Serhat erwähne, will er wissen, was Serhat gesagt hat. – Dass er dich unbedingt hier braucht. Für den Vormittag und die Nacht. - Oguzhan: Unbewegte Miene. Geldzählen. – Ich erkenne: Mein Schützling braucht keinen Beschützer. Und wenn, dann ist das Serhat. Wie bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich das sein könnte? – Ich erzähle Oguzhan, dass die beiden Fotos, die ich von ihm gemacht habe, gut geworden sind. – Er blickt auf vom Geldzählen: Ach ja? – Darf ich eines der Fotos in meinen Blog stellen? – Ja, klar. - So ist er. Oguzhan. – Ich: Du wirst mir fehlen. – Er: Du mir auch. – Ich zu mir selbst: Jetzt gibt es noch einen Grund mehr, um mit dem Rauchen aufzuhören.